Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll, um dir deutlich zu machen, wie augenöffnend dieses Buch für mich war. Letzten Endes sehe ich seinen großen Mehrwert darin, dass Carl R. Trueman erklärt, weshalb unsere Gesellschaft so “tickt”, wie sie tickt und wieso es Abbrüche in Tradition und Wertvorstellungen gibt, die nicht nur Geschmacksfragen sind, sondern die Entwicklung unserer Gesellschaft nachhaltig prägen.
“Der Siegeszug des modernen Selbst” ist das große Werk von Carl R. Trueman. “Fremde neue Welt” ist nicht einfach nur eine kurze Zusammenfassung davon – zumal 250 Seiten nicht wirklich “kurz” sind. Im Vergleich zu “Der Siegeszug des modernen Selbst” scheint mir “Fremde neue Welt” einerseits lesetauglicher und ein bisschen praxisnäher zu sein.
Trueman schreibt:
Im Prinzip ist es das, was wir allenthalben in Kultur, Kirche, Gesellschaft und Politik wahrnehmen können: Die Dinge ändern sich – und das in einem atemberaubenden Tempo. Kaum ein Stein scheint mehr auf dem anderen zu bleiben und es drängen sich Themen und Gruppierungen in den Vordergrund, die vor einigen Jahrzehnten noch nicht einmal “auf dem Schirm waren”. Doch woher kommt das alles?
Eine lang angebahnte Veränderung
Trueman schaut zurück in die jüngere Geschichte und bleibt nicht bei den letzten Jahrzehnten stehen. Für ihn sind es Personen wie Jean-Jacques Rousseau, Friedrich Nietzsche, Karl Marx, Wilhelm Reich oder Herbert Marcuse, welche unser Denken bis heute beeinflussen. Ebenfalls geht Trueman der Frage nach, wie diese Personen bzw. ihre Gedanken unser heutiges Denken prägen, wo die Mehrheit unserer Gesellschaft mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit kein einziges Werk einer dieser Personen gelesen hat.
Mich überzeugt es sehr, was Trueman schreibt – als Beispiel seien hier die Gedanken von Wilhelm Reich erwähnt im Blick auf die “sexuelle Revolution”. Trueman zitiert Reich mit den Worten “Die freiheitliche Gesellschaft [wird] den natürlichen Ansprüchen völlig freien Raum und Sicherheit ihrer Befriedigung bieten…Sie wird also etwa dein Liebensverhältnis zweier Jugendlicher verschiedenen Geschlechts nicht nur nicht verbieten, sondern ihm vielmehr jede gesellschaftliche Hilfe angedeihen lassen. Sie wird die kindliche Onanie nicht nur nicht verbieten, sondern im Gegenteil wahrscheinlich zum Beschluß kommen, jeden Erwachsenen streng zu behandeln, der das Kind an der Entfaltung seiner Sexualität behindert” (S.102). Ja, lies dieses Zitat ruhig nochmals durch, denn es steht signifikant für das, was wir die “sexuelle Revolution” nennen.
Trueman entgegnet nun Folgendes:
Gerade das Loslösenwollen des menschlichen Körpers von seiner Identität, dem Primat der Psychologie über die Physiologie ist das große Problem der heutigen Sexualmoral. Trueman zitiert wie oben schon erwähnt noch weitere Denker der letzten Jahrhunderte, hier sei die Auseinandersetzung mit Wilhelm Reich nur exemplarisch genannt.
Keine heilige Ordnung
Für Trueman kennzeichnet sich unsere heutige Zeit vor allem darin, dass es keine “heilige Ordnung” mehr gibt.
Interessant finde ich seine Weiterführung des Gedankens, dass es keine heilige Ordnung mehr gibt – nein, es darf sie gar nicht mehr geben, sie ist inakzeptabel geworden. Umgangssprachlich finden wir das in Ausdrücken “Soll doch jeder nach seiner Fasson selig werden” oder “Solange niemand zu Schaden kommt, ist alles in Ordnung”. Es darf nicht mehr die eine Wahrheit geben, nicht mehr das eine ordnende Prinzip, das der Gesellschaft Halt und Orientierung bietet. Wohin das Ganze führt, ist für Trueman klar:
Willkommen im 21. Jahrhundert, in Deutschland, dem Land der Dichter und Denker, der Wissenschaftler und großen Namen, wo manche nur noch hinter vorgehaltener Hand sagen: “Es gibt nur zwei Geschlechter.” Warum? Weil es Lobbygruppen gibt, die einfach lauter schreien, mehr Einfluss haben, den Marsch durch die Institutionen nicht scheuen und damit ein verzerrtes Bild der Wirklichkeit malen.
Und hier sind wir angekommen bei dem Thema, das Trueman in seinem Buch “Fremde neue Welt” ausführlich beschreibt und auf das er ausführlich eingeht: Die Frage rund um Geschlecht, Gender und LGBTQ.
Traditionelle Werte sind heute sexistisch und kolonialistisch – wirklich?
Das glaubst du nicht? Nun, dann mach doch mal das Experiment und gehe an ein paar Universitäten und Hochschulen und vertrete einfache, schlichte traditionelle Werte. Ich warne dich vor: Zieh dich jetzt schon warm an, denn dir wird nicht nur Unterstützung entgegen kommen. Trueman drückt es folgendermaßen aus und man müsste bei den Klassenzimmer die Vorlesungsräume deutscher Hochschulen ergänzen:
Nur ein Beispiel ist hier die Veröffentlichung des Buches “Ehe, Familie und Agamie” von Prof. Dr. Matthias Becker, seines Zeichens Neutestamentler an der Universität Heidelberg. In diesem Buch macht er sich stark – und belegt es in meinen Augen auf hervorragende exegetische Weise -, dass das biblische Bild von der heterosexuellen Ehe zwischen einem Mann und einer Frau auch heute noch das Leitbild von Ehe nach christlichem Verständnis ist. Die Leitung der Theologischen Fakultät sah sich dadurch gezwungen, eine Gegendarstellung auf der Seite der Theologischen Fakultät zu veröffentlichen. Das ist auf der einen Seite natürlich ein Ausdruck des großen Erfolgs, den Prof. Becker durch sein Buch verzeichnet, auf der anderen Seite ein wissenschaftliches Armutszeugnis für die Theologische Fakultät, die dadurch deutlich macht, dass ein offener Diskurs nicht stattfinden soll, sie jedoch genau das sich wünscht.
Dies trägt einer gesellschaftlichen Umgestaltung Rechnung, die Trueman wie folgt beschreibt:
“Expressive Individuen” sind hier das Stichwort, mit dem Trueman im Prinzip sein Buch beginnt: “expressiver Individualismus” ist das, was – wenn ich Trueman richtig verstehe – die Hauptursache dafür ist, dass viele traditionelle Werte heute keine Rolle mehr spielen und dass es so etwas wie eine “heilige Ordnung” nicht mehr gibt, ja nicht mehr geben darf, denn es kommt auf das Individuum an, und zwar auf das “expressive Individuum”, das heißt: Jeder kann und soll sich selbst entfalten – ohne Rücksicht darauf, ob das einer Norm (oder Ordnung) entspricht – und soll das Recht darauf haben, dass dies wiederum zu einer Norm (für die Person) wird.
Auf brillante Weise führt Trueman aus, dass die LGBTQ-Community alles andere als in sich konsistent und in ihrer Weltanschauung und Sicht auf Gender und Geschlecht konsequent ist:
Wie gesagt, sehen Lesben, Schwule und Bisexuelle alle die geschlechtliche Binarität von männlich/weiblich in der Biologie begründet. Dieser Punkt wird von der Trans-Ideologie geleugnet, die ihrerseits die Trennbarkeit von biologischem Geschlecht und Gender betont. Ähnlich verhält es sich mit der Queer-Ideologie, die die Stabilität der traditionellen Kategorien von männlich/weiblich ablehnt, zugunsten eines fließenden und sich ständig verändernden Spektrums an multiplen sexuellen Identitäten.Fremde neue Welt, S.167
Weder Resignation noch Optimismus
Und jetzt? Wie gehen wir nun damit um? Trueman empfiehlt (wie ich finde zurecht) nicht einem von zwei Extremen zu verfallen: Auf der einen Seite wäre das ein resignatives “Kopf in den Sand stecken” und auf der anderen Seite ein fatalistischer Zweckoptimismus.
Denn – und diesen Gedanken fand ich äußerst spannend: Man kann mit Fug und Recht behaupten, dass es “noch nie so schlimm war wie heute” – also das, was wahrscheinlich auch schon Generationen vor uns gesagt haben. Dass dies jedoch ein Merkmal der heutigen Zeit ist, begründet Trueman wie folgt:
Diese zwei Dinge sind die formbare (plastische) Vorstellung der menschlichen Identität, auf die der expressive Individualismus abzielt, und die Auflösung der traditionellen Bezugsrahmen unserer Umwelt (national, religiös, familiär, geographisch, sogar physiologisch), durch die sich Menschen bisher definiert haben.
Damit befinden wir uns in einer Situation ohne erkennbare Parallele in der Geschichte.Fremde neue Welt, S.153
Trueman führt aus, wie wir heute von den Bekenntnissen der (alten) Kirche, Augustin und den Apologeten lernen können, mündig und konstruktiv in einer Gesellschaft als Christen zu leben, die mehr und mehr unbiblisch und unchristlich ist.
Was er über die Berufung eines jeden Christen aussagt, kann ich voll und ganz unterstreichen und an das Ende dieser Rezension stellen:
Deshalb darf ich nicht verzweifeln, wenn die Dinge in dieser Welt schief laufen oder ich mit Veränderungen konfrontiert bin, die mir, meinen Lieben oder der Gesellschaft insgesamt, Leid bringen.
Vielmehr muss ich mich nach besten Kräften bemühen, die Dinge in Ordnung zu bringen, und mich daran erinnern, dass der wahre Sinn meines und jeden Lebens nicht im Hier und Jetzt zu finden ist, sondern im zukünftigen Leben. Das Leid im Hier und Jetzt mag manchmal schrecklich und schier unerträglich sein, aber es ist niemals sinnlos. Nein, es findet seinen Sinn im Leben, im Tod, in der Auferstehung, in der Himmelfahrt und in der Wiederkunft unseres Herrn Jesus Christus.Fremde neue Welt, S.234
Wie du vielleicht schon gemerkt hast, bin ich von diesem Buch sehr begeistert und überzeugt – aus zwei Gründen. Zum einen analysiert Trueman scharfsinnig, warum sich unsere Gesellschaft dorthin entwickelt hat, wo sie jetzt steht. Zum zweiten zeigt er Wege auf, wie wir als Christen konstruktiv und als Zeugnis für Jesus in dieser Welt leben und sie gestalten können.
Carl R. Trueman: Fremde neue Welt
ISBN: 9783986650773 | Preis: 16,90 EUR
Verlag: Verbum Medien (www.verbum-medien.de/products/fremde-neue-welt)
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