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Generation lebensunfähig

Vorsicht! Die Lektüre dieses Buches kann dein Leben verändern, dein Denken sprengen und dich regelrecht schockieren. Ganz besonders dann, wenn du eigene Kinder hast oder immer wieder mit Kindern zu tun hast – sei es in der Familie und Verwandtschaft, Nachbarschaft, Vereinswesen oder Kirche.

Manches, was ich in “Generation lebensunfähig” las, hat mir den Atem verschlagen. Vieles “ahnt man ja so” – aber es schwarz auf weiß aus der Feder eines Fachmannes und als zweifachem Vater auch persönlich Betroffenem zu lesen, ist noch mal etwas ganz anderes.

Generation Alpha und die Frage nach Zufriedenheit

“Generation Alpha” werden diejenigen genannt, die nach 2010 geboren wurden. Und ihre Kindheit ist so ganz anders als deine – denn ich gehe davon aus: Wenn du das hier liest, bist du mindestens zwanzig Jahre älter als die “Generation Alpha”.

Gleich zu Beginn des Buches beschreib Maas die Geschichte des zehnjärigen (!) Ryan – er hat im Jahr 2020 mit seinen YouTube-Videos 30 Millionen Dollar verdient. Crazy, oder nicht? Das Problem ist schnell gefunden:

Denn wir haben ein Maß an Wohlstand erreicht, in dem ein “Mehr” nicht gleich ein psychologisches “Besser” bedeutet. Im Gegenteil: Ab einem gewissen Wohlstand wird ein Plateau erreicht, ab dem sich die Zufriedenheit nicht durch mehr Produkte oder Möglichkeiten steigern lässt.Generation lebensunfähig, S.13

Worum es Maas dabei geht, ist alles andere als ein Technologie-Bashing und Rückkehr in die analoge Steinzeit. Vielmehr geht es ihm darum, Eltern (und ich ergänze: alle Erwachsenen, die mit Kindern zu tun haben) dafür fit zu machen, dass Kinder (“Generaion Alpha”) heute in einer Welt aufwachsen, die auf seltsame Weise digital und analog zugleich ist. Als Vater von zwei Kindern, die zur “Generation Alpha” gehören, weiß ich, was Maas’ Anliegen ist und kann es nur gutheißen.

Aber Vorsicht: “Generation lebensunfähig” ist kein Eltern-Ratgeber sondern die Darstellung verschiedener Studien im Bereich der Soziologie, Verhaltens- und Hirnforschung. Spannend zu lesen, sensibel und wertschätzend dargestellt: Maas haut niemanden in die Pfanne, er sucht auch keine Schuldigen – er sucht Lösungen. Er will – im positiven Sinn – diese Welt zu einem besseren Ort machen.

Emma – oder: Mitten aus dem Leben gegriffen

Die “Fallbeispiele” seiner Studien flechtet er in den Gesamt-Duktus des Buches so reibungslos und schön ein, dass ich mich während des Lesens bei der Frage ertappt hatte: “Was ist das eigentlich? Ratgeber, Roman, Studienergebnis, Sachbuch, Biografie?” Wahrscheinlich von allem ein bisschen – vor allem aber eines: faszinierend!

Denn auf den ersten Seiten wirst du Emma kennenlernen – die Tochter von Martina und Johannes. Ich will nicht spoilern, denn das würde eine Menge Leselust rauben – nur so viel: Maas zeichnet die Gedanken, die Haltung, die Einstellung zu Leben, Werten und Materiellem von Martina und Johannes wunderbar nach – und zwar von “Monate vor der Geburt” bis in die erste Lebensphase (wie lange diese geht, verrate ich dir hier nicht) von Emma.

Später begegnen beim Lesen auch Finn und Julian – zwei Teenager, in deren Leben wir blicken dürfen.

Dabei macht er deutlich, welche Rolle “das Digitale” im Leben von (jungen) Menschen heute spielt: Das Internet als Quelle grenzenlosen Wissens bis hin zur dauerhaften Arzt-Sprechstunde inklusive Diagnose und Heilungsplan – oder hast du etwa noch nie etwas von “Dr. Google” gehört?

Dass diese Veränderungen etwas “mit uns Menschen machen”, dürfte jedem klar sein – wie viel sie sind und wie tief diese Veränderungen jedoch gehen, das hat mich beim Lesen nicht selten innerlich die Augen reiben lassen. Die (medialen) Einflüsse, denen sich Eltern heute ausgesetzt sehen und die sie (dankend) annehmen erzeugen eine Ambivalenz, die Maas in aller Kürze treffend bezeichnet:

Wir wollen die perfekten Eltern sein und lassen uns doch fremdbestimmen. Philosophen sprechen von einer “entmenschlichten” Erziehung, die auch die kleine Emma beeinflussen wird.Generation lebensunfähig, S.56

Unvorstellbar und doch wahr – und real. Tagtäglich. Mitten in Deutschland. Das alles gipfelt im Eltern-Kind-Dilemma, das nahezu ein Rollentausch zu Tage fördert und Eltern-Kind-Beziehung lange nicht so hierarchisch gesehen wird, sondern Begriffe wie “auf Augen Höhe” oder “Seite an Seite” heutzutage in der Reflexion von Erziehungsmethoden Standard sind. Oder – und das steht jetzt nicht im Buch, sondern ist mein persönliches Erleben: Lehrer werden zu “Lernbegleitern” und Schüler zu “Lernpartnern”.

Kann das gut gehen? Sagen wir mal so: Rüdiger Maas bringt es auf den Punkt und stellt die richtigen Fragen:

Wir erziehen heute also unsere Kinder zu Königinnen und Königen. Wir müssen aber überlegen: Was passiert mit einem Land voller Königinnen und Königen? Wer arbeitet dann noch, wer lässt sich noch etwas sagen? Und wo können und sollen sich die Königinnen und Könige dann einordnen?”Generation lebensunfähig, S.87

Curling-Eltern und Lebensunfähigkeit

Maas nimmt Bezug auf aktuelle Studien und beschreibt detailliert Ergebnisse eigener oder anderer Studien, er geht auf Kritik ein, aber vor allem begeistert mich eines: sein ungemein breites Spektrum an Indikatoren und Faktoren um nicht nur den Status Quo zeitgeschichtlicher Erziehungsmethoden und Erziehungsparadigmen darzustellen, sondern auch Wege aus dem ein oder anderen Dilemma aufzuzeigen.

Weder – siehe oben – ist “Generation lebensunfähig” ein Eltern-Ratgeber noch ist es ein Pamphlet gegen Digitalisierung in Familie und Kinderzimmer. Maas wirbt um den richtigen Umgang. Er schreibt leidenschaftlich und begeisternd, authentisch und lebensnah. Ziemlich in der Mitte des Buches (S. 120ff) beschreibt Maas eine “andere” Erziehung und die Anknüpfungspunkte – er bleibt eben nicht stehen beim Nennen der Probleme, sondern will Wege aufzeigen, es besser zu machen.

Dabei scheint mir ein Begriff eine wesentliche Rolle zu spielen: Die “Überbehütung” – so bspw. auch bei Julian (16) und seiner Mutter Claudia (S. 153). Maas verwendet den Begriff (oder ähnliche Beschreibungen) auch an anderen Stellen im Buch. Dabei geht es schlicht darum, dass Kinder und Jugendliche immer weniger “in der analogen Welt” zurechtkommen, weil sich ihre eigene Welt immer mehr im digitalen Raum abspielt und gleichzeitig die Eltern (meist die Mutter) den Kindern alles abnehmen, was ein “Klarkommen in der analogen Welt” unterstützen würde.

Die Folge: Eltern sind auf dem besten Weg, die “Generation Alpha” zur Lebensunfähigkeit zu erziehen. Es gibt nicht mehr nur die Helikopter-Eltern, sondern auch die Curling-Eltern.

Claudia ist eine Curling-Mutter. Sie sorgt dafür, dass Finn und Julian in der Offline-Welt unter keinen Umständen in eine schwierige Situation geraten können. Niemals. Wobei das, was “schwierig” sein könnte, von Claudia selbst definiert wird. Jedenfalls in der analogen Welt. Und wie im Curling-Sport wischt sie alle Schwierigkeiten aus dem Weg. Natürlich steht Claudia auf der Matte, wenn Finn oder Julian schlecht benotet werden. Natürlich sind Finns Eltern sofort da, wenn im Fußball etwas schiefläuft. In der Offline-Welt mussten Finn und Julian noch nie etwas Schlimmes erleben. Dank ihrer Mutter.Generation lebensunfähig, S.137

“Wo ist das Problem?” magst du dich fragen. In meinen Augen ist es ein verheerendes, auf welches die Generation Alpha zusteuert, wenn sie sich einerseits schon früh und größtenteils (mehrere Stunden täglich) in der Online-Welt aufhält, während in der Offline-Welt alles aus dem Weg geräumt wird – nämlich dieses hier:

Beide Söhne haben deshalb nie wirkliche Bewältigungsstrategien entwickeln müssen oder auch nur dürfen. Das heißt: Eigentlich sind beiden auf die Welt außerhalb des Dorfes überhaupt nicht vorbereitet.Generation lebensunfähig, S.137

Für mich so etwas wie der versteckte Mittelpunkt des Buches, um den sich alles dreht: Maas belegt mit Forschungs- und Studienergebnissen bildlich und signifikant die Bedeutung des Internets und der Digitalisierung im Leben von Kindern und Jugendlichen bei gleichzeitig zur Lebensunfähigkeit gereichenden Erziehungsmodellen seitens der Eltern. Was Maas unter “lebensunfähig” versteht, zieht sich wie ein roter Faden durch das gesamte Buch. Dem Leser wird schnell deutlich, um was es geht und vor allem: Was auf dem Spiel steht.

Apokalypse now oder Zukunft gestalten?

Ganz ehrlich: Beim Lesen von “Generation lebensunfähig” beschlich mich manchmal das Gefühl, dass wir auf ein apokalyptisches Szenario zusteuern – zumindest wenn man den Ausführungen von Rüdiger Maas Glauben schenkt und seiner rational-analytischen Weltsicht mit empirisch-evidenter Unterfütterung folgt – woran zunächst auch nichts Verwerfliches wäre, wenn dadurch nicht eine zu sehr deprimierende Sicht der Zukunft dargestellt würde. Also war ich gespannt, ob es am Ende noch irgendwie so etwas wie ein “Happy End” oder zumindest eine positive Schau nach vorne gibt im Kapitel “Was bedeutet das alles für uns Eltern?“.

Zunächst war ich enttäuscht, dass dieses Kapitel nur vier Seiten enthält, wovon zwei Seiten eine – zugegeben sehr charmante – Aufgabe für den Leser beinhaltet.

Also habe ich mir die anderen beiden Seiten noch einmal durchgelesen und habe darin eine bittersüße Lektion gelernt, die das Buch weder zu einem “Happy End” noch zu einer Apokalypse führt. Diese bittersüße Lektion besteht darin, dass…..nein. Das verrate ich an dieser Stelle nicht, denn alleine das vertiefte Nachdenken über diese zwei Seiten könnte dazu führen, dass “Generation lebensunfähig” ein äußerst nachhaltiger Augenöffner in einer Zeit ist, in der wir gerne mal die Augen vor Problemen verschließen.

Die Veränderungen und Einflüsse, denen sich Kinder und Teeanger heutzutage ausgesetzt sehen, sind immens. Das hat zwangsläufig Auswirkungen nicht nur auf unsere Erziehung, sondern auch darauf, wie wir Gesellschaft und Vereinsleben, Gemeinde und Kirche mit, für und gerade auch wegen der “Generation Alpha” gestalten wollen. Meine Befürchtung: Zu viele der Erwachsenen haben das, wie Maas es auch beschreibt: Einen “blinden Fleck” (S. 213). Er benennt diesen hinsichtlich der Gefahren, welche vom Internet ausgehen für den “Homo Interneticus”, wie er ihn liebevoll bezeichnet. Ich würde noch einen Schritt weitergehen und behaupten, dass dieser blinde Fleck nicht nur im Blick auf die Gefahren, sondern auch auch im Blick auf Chancen und Potenzial des Internets im Blick auf die “Generation Alpha” bei der heutigen Elterngeneration besteht. Oder hat dir (falls du Vater oder Mutter bist) dein Kind noch nie im Blick auf die digitale Welt gesagt: “Ach Mama/Papa: Das musst du so und so machen…”?

“Generation lebensunfähig” trägt einen provokanten Titel, ja. Er könnte reißerisch daherkommen, wenn der Inhalt den Erwartungen nicht entsprechen würde. Das tut er aber. Und wie: augenöffnend, schonungslos, sachlich, analytisch und zukunftsweisend.

Deswegen empfehle ich das Buch sehr gerne – und werde mich jetzt der Aufgabe am Ende des Buches widmen.

Rüdiger Maas: Generation lebensunfähig
224 Seiten
ISBN: 978-3-96905-071-2
Verlag: YES Verlag (www.m-vg.de/yes/shop/article/21988-generation-lebensunfaehig/)
Preis: 19,99 EUR
Mehr Infos über den Autor und das “Institut für Generationenforschung” findest du hier:

www.generation-thinking.de/maas-generation-z


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