Nachdem die Hybels und Maxwells den (christlichen) Markt an Führungs- und Leitungsbüchern geprägt haben, wird es scheinbar Zeit für eine Schwerpunktverschiebung. Hin zum Inneren, zur Seele, zum “Selbst” des Leiters – und weniger hin zu Tools und Methoden.
Ehrlich gesagt glaube ich, dass Magnus Malms “In Freiheit dienen” deswegen jede Menge Aufmerksamkeit verdient, weil es quasi in eine Lücke tritt, welche die klassischen Leitungsratgeber und Bestseller hinterlassen haben. Wir haben – auch und gerade in christlichen Gemeinden und Werken – sehr viele klassische Methoden und Tools aus der Wirtschaft gelernt und übernommen – und: Vollkommen zurecht! Ich bin zutiefst dankbar dafür, dass Leiter wie Bill Hybels oder John C. Maxwell mich genau das gelehrt haben als die eine Seite der Medaille. Und ich sage nicht, dass Bücher wie “In Freiheit dienen” nun diese ersetzen – sondern ergänzen. Wertvoll ergänzen!
Malms “In Freiheit dienen” scheint nun die andere Seite der Medaille zu präsentieren. Hier geht es schonungslos um den Leiter selbst, um sein Herz, sein Selbst, sein Innerstes, seine Seele.
Malm spricht Ebenen und Dimensionen eines Leiters an, die ganz tief schürfen und graben. Dass er mit einer Psychotherapeutin verheiratet ist, scheint ihn dabei sicherlich sehr zu unterstützen, wie er selbst zugibt zu Beginn seines Buches. Des weiteren ist Malm stark geprägt von monastischer Theologie und Frömmigkeit genauso wie von ignatianischer Frömmigkeit. Für evangelische Christen sicherlich noch ein wenig gewöhnungsbedürftig – aber mir scheint, dass diese beiden Vorbemerkungen wichtig sind, um Malm zu verstehen.
Dennoch: “Ignatianische Exerzitien” und ein tiefes Verständnis (oder “Verstehenwollen”?) der menschlichen Psyche scheinen Grundvoraussetzungen im Denken und Handeln von Malm zu sein, der in Schweden immer wieder Auszeiten und Einkehrtage für Leiter anbietet. Die ignatianischen Exerzitien sind geistliche Übungen, die auf Ignatius von Loyola zurückgehen, einen spanischen Mönch aus dem 16. Jahrhundert, auf den die “Gesellschaft Jesu” zurückgeht – besser bekannt als “Jesuitenorden”.
Leiten auf den Spuren Jesu
Das ist nicht nur der Untertitel des Buches sondern Programm. Malm schafft es auf erstaunliche Weise, biblische Texte und vor allem neutestamentliche Passagen mit Worten Jesu so einzuspielen, dass sie maßgeblich sind für seine Gedanken im Blick auf Führung und Leitung.
Gegliedert ist das Buch in zehn Kapitel, die im Prinzip Grundsatzthemen ansprechen, die jeden christlichen Leiter betreffen. Die Überschriften dieser zehn Kapitel geben schon einen guten Einblick – auf zweifache Weise: Zum einen im Blick auf das “Was” (Was sind die Inhalte) und das “Wie” (“Wie geht Malm diese Inhalte an?”). Deswegen liste ich sie hier gerne auf:
- Führung übernehmen – Warum es bei der inneren Freiheit beginnen muss
- Was uns wirklich antreibt – Zwischen Begabung, Berufung und dem Drang nach Anerkennung
- Frei, arm und dienstbereit – Das Wie geistlicher Führung
- Das Problem mit dem blinden Augenarzt – Über geistliches Urteilsvermögen
- Zwischen Engeln und Dämonen – Die eigene Position finden
- Hier geht’s lang – Die Frage von Macht und Autorität
- Klare Worte finden – Die Predigt als deutliche Form von christlicher Führung
- Die Kirche – Mutter, Leib oder Projekt?
- Was eine Führungsperson formt – Zwischen dem Ich, Gott und der geistlichen Ausbildung
- Nicht zum Erfolg berufen, sondern um Früchte zu tragen – Orientierung zwischen Burn-out und Vision
Ich würde nicht behaupten wollen, dass Malm eine defizitäre Sicht auf die Dinge hat, aber vielleicht ist es so ein kleiner Spleen von ihm (der ein oder andere mag es auch aus “Gott braucht keine Helden” kennen), dass er die Realität nicht primär aber doch substanziell defizitär betrachtet und Lösungswege anbietet.
So schreibt Malm beispielsweise im Blick auf den richtigen Führungsstil:
Nun denkt man beim Lesen zunächst: “Wunderbar. Gabenorientierung ist doch super. Das haben wir lange genug gelernt, gelehrt und verstanden.” Und Malm zerpflückt das kurzerhand um die “beziehungsbasierte Führung” zu etablieren – und macht das am Beispiel Jesu deutlich – wie ich finde: absolut überzeugend. Nur – das Ganze hat ziemliche Konsequenzen für unsere Arbeit als Leiter in Gemeinden und christlichen Werken.
Ich kann in dieser Rezension nicht auf jedes einzelne Kapitel eingehen (vielleicht geschieht das noch an anderer Stelle). Nur so viel vorab: Wie Malm biblische Texte – und hier vor allem Aussagen über oder von Jesus in seine Art, Leitung und Führung “christlich zu denken”, einfließen lässt, ist absolut heilsam und befreiend. Und das kommt nicht von ungefähr – denn diese beiden Begriffe – oder besser gesagt: Dimensionen – sind für Malm im Blick auf Leiterschaft sehr entscheidend.
Heilung und Befreiung
Diese Begriffe tauchen immer wieder auf – sowohl für den Leiter selbst als auch im Blick auf die ihm anvertrauten Personen.
Dieser Abschnitt ist nur einer von vielen, den man hierfür ins Feld führen könnte. Malm führt es an vielen Stellen aus, dass Leitung immer bedeutet: Menschen in Freiheit führen und ihnen den Weg zur Heilung zu zeigen, den sie für ihre Wunden (jeder Art) benötigen. Dass dies am ehesten dann wirkungsvoll geschieht, wenn man “mit gutem Beispiel vorangeht”, ist selbstredend. Aber genau diese Sprachweise verwendet Malm nicht – er legt dem Leiter nicht noch die Bürde auf “mit gutem Beispiel voranzugehen”, macht aber auf seine charmant-deutliche Weise klar, dass der Leiter einer unter Schwestern und Brüdern ist – auch in der Gemeinde. Herausfordernd. Ein Leiter ist kein Leiter “für” die Gemeinde sondern “in” der Gemeinde (S. 223). Wie viele Leiter verstehen ihren Dienst auf diese Weise? Als “Teil des Ganzen” und nicht als “Leithammel”, der oft zum Leidhammel wird!?
Malm unterscheidet dabei zwischen Berufung und Sendung eines christlichen Leiters und schreibt:
- Berufung: Sich mit Jesus Christus und seinen Interessen in der Welt vereinen
- Sendung: Menschen von allem befreien, was sie an der Antwort auf ihre Berufung hindertIn Freiheit dienen, S.75
Konkret wird das für Malm in Gebet und Seelsorge sowie einem bewussten Wahrnehmen seiner selbst und dem absoluten Fokus auf Jesus. Die Leidenschaft, die Liebe, die Hingabe, mit der Malm über Jesus schreibt, ist vielleicht nicht die Art und Weise wie ich es ausdrücken würde, aber sie ist absolut bemerkenswert und faszinierend. Für Malm ist klar:
Wie eingangs schon erwähnt, geht es Malm mit seinen Ausführungen nicht darum, dem Leiter handwerkliche Tools an die Hand zu geben, wie er nun besser leiten kann, sondern es geht ihm vielmehr darum, dass ich als Leiter erkenne, wer ich bin und ob das, was ich als Leiter mache auch das ist, was Menschen in Freiheit führt und in ihre Bestimmung.
Jede Menge “Gold Nuggets”
“In Freiheit dienen” liest sich wie eine große Schatzkiste. Immer wieder finden sich Gedanken, Sätze, Formulierungen, die mich stocken lassen. Nachdenken. Innehalten. Verinnerlichen, was ich da gerade gelesen habe.
Ein paar Beispiele.
Wer meint, dass Malm Leitung an sich ablehne, liegt komplett daneben. Vielmehr geht es ihm um den “rechten Gebrauch” von Leitung. Leitung im Sinne Jesu – oder eben: in den Spuren Jesu.
Aber ist es nicht so, dass man als Leiter einer christlichen Gemeinde oder eines christlichen Werkes jede Menge Zeit für (scheinbar) Unnützes und eher Lästiges (wie bspw. Verwaltung) aufbringt, die dann für die wirklich wesentlichen Dinge fehlt? Wie könnte es anders sein: Auch hier hat Malm einen wunderbaren Ratschlag parat, der im Buch immer wieder auftaucht:
Nun liegt es in der Verantwortung eines jeden Leiters, selbst herauszufinden, worin das “Lebendige” und worin das “Leblose” besteht. Da mag es allgemein gültige Schnittmengen geben – aber doch mag es individuell von Gemeinde zu Gemeinde und von Leitungstyp zu Leitungstyp unterschiedlich aussehen.
Innerlich jubiliert habe ich, als Malm im 7. Kapitel (“Klare Worte finden. Die Predigt als deutliche Form von christlicher Führung”) schreibt, dass es auch darum gehe, “die Bibel rein physisch zurückzuerobern” (S.212):
Überhaupt ist dieses Kapitel über die Predigt eine wunderbare Mini-Homiletik, die jede Menge befreiende Botschaften beinhaltet. Malm zeigt auf, weshalb das Predigen bei vielen Leitern Verkrampfungen auslöst und führt wunderbar in die Freiheit mit einer “einfachen Gebrauchsanweisung zur Predigt” (S. 218-219) aus sieben Punkten bestehend, denen ich voll zustimmen kann. Voraussetzung von allem: Das persönliche Bibelstudium des Leiters für sein persönliches, privates Leben – und nicht nur das “professionelle Studieren” der Bibel, das zweckgebunden für die Verkündigung geschieht.
Apropos privat. Hier hat Malm im Kapitel “Zwischen Engeln und Dämonen. Die eigene Position finden” ein paar ganz nette Worte übrig – und einen super praktischen Ratschlag im Blick auf Privates und Öffentliches eines christlichen Leiters:
Revolutionär sind Malms Gedanken im Blick auf die Ausbildung von – ich übertrage es einfach in den deutschen Kontext – Pfarrerinnen und Pfarrern. Er scheint auch die Art und Weise, wie in Deutschland die “Ausbildung” zum Pfarrer/Pfarrerin geschieht, ganz gut vor Augen zu haben und kommt zu dem berechtigten Schluss (bei dem mir leider aber auch ähnlich wie ihm wohl der Glaube ein wenig abhanden gekommen zu sein scheint, dass es sich bessern möge):
Einer geht noch. Zum Schluss. Letzte Seite. Was ist Malm so wichtig, dass es am Ende seines Buches beim Leser nachklingen soll?
Wunderbar in keine Schublade passend
So ist Malm. So ist das Buch.
Ist Malm ein Mystiker? Dazu ist er irgendwie zu rational und sachlich in vielen Erkenntnissen.
Ist Malm ein Katholik? Dazu legt er viel zu wenig Wert auf Ämter und Hierarchien, auch wenn er die Notwendigkeit von Leitung betont.
Ist Malm ein Evangelikaler? Dazu klingen manchmal einige recht kritisch-liberale Töne im Blick auf “das Böse” an.
Ist Malm ein Traditionalist? Er spricht zwar viel davon, dass wir als christliche Führungsperson eingliedern in eine lange Kirchen- und Bekenntnisgeschichte, was bei ihm aber nichts mit versteinerten Traditionen zu tun hat.
Ist Malm ein Träumer? Dazu hat er wahrscheinlich schon zu viel gesehen, erlebt und durchlebt in der Kirchen-Szene.
Was ist er aber dann wirklich? Inspirierend. Tiefgründig. Ein Mann des Gebets, des festen Glaubens. Ein motivierender Autor und herausfordernder Denker. Bestseller-Autor. Hoffentlich auch mit diesem Buch. “In Freiheit dienen” hat es mehr als verdienst, von vielen, vielen christlichen Führungspersonen gelesen zu werden – vollkommen egal, ob sie evangelisch, katholisch, charismatisch, evangelikal, mystisch oder orthodox sind.