So und nicht anders kann Kirche momentan einladen zu Gottesdiensten. Auf Grund der Vorschriften im Blick auf die “Corona-Krise” ist es anders nicht möglich. Nicht einmal zwei Monate ist es her, dass keine Gottesdienste mehr stattfinden können auf Grund des Versammlungsverbotes und für manche Geistliche, Pastoren und Theologen scheint sich das Ende des christlichen Abendlandes abzuzeichnen – scheinbar unabhängig davon, dass es weltweit Christen gibt, für die das, was wir nicht einmal in einem Zeitraum von knapp zwei Monaten erleben, ein Leben lang Normalität ist: Keine öffentlichen Gottesdienste.
Es geht mir um eine Absurdität, von der ich nach wie vor nicht verstehen kann, wie manche sie nicht nachvollziehen oder zumindest erkennen können. Denn krasser könnte der Kontrast zu einer Kernaussage Jesu nicht sein.
Was hat Jesus nochmal gesagt?
Jesus hat einmal gesagt:
“Kommt her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid; ich will euch erquicken!” (Matthäus 11,28)
Nun dürfen unter bestimmten hygienischen Vorschriften und Regeln in einigen Bundesländern wieder Gottesdienste stattfinden. Nimmt man diese Vorschriften ernst, muss man die Aussage Jesu komplett umdrehen und kann vereinfacht ausgedrückt zu den Gottesdiensten einladen unter dem Slogan:
“Kommt alle her, die ihr stark und gesund seid!“
Personen, die vorerkrankt sind, die zu einer Risikogruppe gehören, die sich momentan krank fühlen – sie dürfen alle nicht kommen oder sollen es nicht. Sie sollen zuhause bleiben – und das aus nachvollziehbaren Gründen. Ganz großes Kino. Absurder geht’s nicht.
Hier wird ein Grundwert christlichen Glaubens auf dem Altar der scheinbar beschnittenen Ausübung von Religionsfreiheit geopfert.
“Mach mal halblang”, höre ich die ersten rufen. “Die Leute kommen ja zur Kirche, nicht zu Jesus.”
Ok, schauen wir uns diesen Pappkamerad an.
Die lauten Unkenrufe, jetzt endlich wieder “richtig Gottesdienst feiern” zu können, kommen doch gerade da her, dass Menschen sich in einem Gotteshaus Gott wesentlich näher zu fühlen scheinen als vor dem Bildschirm bei einem Livestream-Gottesdienst. In gewisser Weise wird also angenommen, dass Gottes Gegenwart in Kirchen besser zu erleben wäre als zuhause vor dem Bildschirm. Interessant.
Jesus hat gesagt: “Ich bin bei euch an allen Tagen bis an das Ende der Welt.” (Matthäus 28,20)
Er hat nicht gesagt: “Ich bin bei euch in der Kirche bis an das Ende der Welt.”
Ich wünsche mir sehnlichst, dass wir wieder Gottesdienste als versammelte Menschen feiern. Das ist Wesensäußerung von Kirche seit annähernd 2000 Jahren. Ich wünsche mir das wirklich sehr! Mit vielen. In einem Raum. Mit Liedern (die dürfen nicht gesungen werden momentan), mit Umarmungen und Begrüßungen (bei 1,5-2 Meter Abstand geht das nicht) und mit der Möglichkeit, das Lächeln auf dem Gesicht des anderen wahrzunehmen (was durch eine Gesichtsmaske extrem erschwert ist).
Solange das nicht möglich ist, sollten wir keine Scheingefechte austragen, sondern uns darauf konzentrieren, wie die neu gewonnene Kreativität und innovative Kraft in der Kirche weiterentwickelt werden kann, um Menschen mit dem Evangelium zu erreichen, zu trösten, zu stärken.
Ich habe es an anderer Stelle schon geschrieben, dass ich tief bewegt davon bin, welche Kreativität und Innovationskraft sich nun Bahn bricht in dieser alten, oft so schwerfälligen und rückwärts gewandt wirkenden Kirche. Sie lebt! Sie lebt immer noch!
Ein unguter Reflex und Glaubwürdigkeitsverlust
Dass nun landauf landab von einigen gefordert wird, unbedingt wieder Gottesdienst zu feiern, ist für mich ein unguter Reflex und hat mit der Ausübung meiner Religionsfreiheit gar nichts zu tun. Ich kann meinen Glauben auch ohne Kirchengebäude und Gottesdienst leben – natürlich ist es aber mit Gottesdienst wesentlich schöner.
Da wird doch in der Kirche immer wieder betont, dass Gott auf Seiten der Schwachen und der Kranken sei. Warum verabschiedet sich die Kirche aber von genau dieser Gruppe, wenn nun vehement Gottesdienste gefordert werden, obwohl die Rahmenbedingungen es kaum möglich machen oder gar zulassen, dass Schwache und Kranke daran teilnehmen? Wohlgemerkt: Wir reden hier von einem nicht einmal zwei Monate langen Zeitraum im Rahmen einer annähernd 2.000 Jahre langen Kirchengeschichte.
Mir treibt es jede Menge Fragezeichen in mein Hirn, wenn ich gerade von denen, die genau dieses Mitleiden Gottes mit den Armen, Kranken und Schwachen immer wieder betonen, jetzt lautstarke Forderungen nach Gottesdiensten höre. Für wen? Für die, die bedenkenlos kommen können – und das sind nicht die Kranken und Schwachen. Absurd.
Zwei Meter Abstand zwischen den Stühlen – also nicht nur nach rechts und links, sondern auch nach vorne und nach hinten. Wow. Was für eine krasse Gemeinschaft. Wenn das so toll ist, dass es jetzt vehement gefordert wird – wieso haben wir es vorher nicht schon so gemacht? Falls es noch immer nicht angekommen ist: Auch ich will unbedingt wieder Gottesdienste feiern. So richtig. Mit Umarmungen und Handschlag, mit fröhlichem Worship und Abendmahl mit Brot und Saft oder Wein. Ja, unbedingt will ich das.
Oh Kirche, wach endlich auf!
Dein Zentrum ist keine Veranstaltung sondern eine Person: Jesus Christus. Und dem ging’s immer um Beziehung – vor allem um ganz nahe Beziehungen. Enge Beziehungen. Wahrhaftige Beziehungen. Keine halben Sachen.
Wir werden bis Jesus wiederkommt noch eine ganze Menge Gottesdienste feiern. Dessen könnt ihr euch sicher sein. Da kommt es auf ein paar Gottesdienste mehr oder weniger nicht an – und nicht auszudenken, wenn ausgerechnet durch eine verfrühte Öffnung von Kirchen einer zweiten Infektionswelle der Boden bereitet wird oder wir einer Einteilung in “Schwach und Krank” vs. “Gesund und Stark” noch mehr Raum geben.
Lasst uns diese Krise lieber nutzen, um Menschen zu dienen und uns auf das Wesentliche zu konzentrieren. Und vor allem: Lasst uns weiterhin Menschlichkeit, Liebe, Kreativität und Innovation ganz viel Raum geben – denn davon habe ich in den letzten Wochen jede Menge gesehen und bin begeistert!
Lasst uns Online-Glaubenskurse starten, Telefonandachten einspielen, Menschen anrufen, Briefe und Karten schreiben, Gottesdienste und Andachten streamen (die danach auch noch verfügbar sind zum Anschauen als Ermutigung), lasst uns “Jesus ist auferstanden” auf die Straßen schreiben und Segenskarten an Kirchen abholen, lasst uns mit Kids gemeinsam online Kindergottesdienst und Jungschar zelebrieren, lasst uns der Einsamkeit der Menschen persönlich und direkt begegnen, lasst uns virtuell Kleingruppen haben und Abendmahl feiern, lasst uns Predigen ausdrucken und verteilen, lasst uns Predigten auf CD aufnehmen und verteilen mit Begleitheft (in der Gemeinde meiner Dekanin wird das gemacht – mega!), lasst uns diese Situation einfach noch weiter aushalten.
Lasst uns das alles tun. Lasst es uns weiterhin tun. Und lasst uns nicht Gottesdienste einfordern, denn eines ist ziemlich sicher: Es wird eine ganze Menge Kraft, Zeit und weitere Ressourcen benötigen, um diese Form von Gottesdiensten zu feiern. Das alles fehlt dann wieder, um die innovativen und kreativen Ideen der letzten Wochen auf ein nachhaltiges Fundament zu stellen.
P.S.
Ja, ich bin Pfarrer. Ja, ich liebe meine Gemeinde – aber nicht mehr als meine Familie, keine Sorge. Ja, ich liebe meinen Beruf. Ja, ich will unbedingt wieder Gottesdienste feiern – bald, so richtig; ich glaube, ich erwähnte es oben bereits.
Nein, Kirche wird jetzt nicht zugrunde gehen ohne Gottesdienste. Nein, Gottesdienste sind nicht das Zentrum christlichen Glaubens. Nein, ich will nicht provozieren, sondern lediglich meine Meinung auf meinem Blog kundtun.
Ja, ich bin begeistert von dem, was an Gutem in den letzten Wochen entstand. Ja, ich bin mir bewusst, dass das hier nicht allen passt – das ist ok. Wir betonen in der evangelischen Kirche doch immer die tolerante Weite protestantischer Theologie. Just do it! Halte es aus, dass ich eine andere Meinung habe als du – ich halte deine Meinung auch aus. Nein, ich erwarte nicht, dass du alles so siehst wie ich. Nein, ich habe nicht die Weisheit mit den Löffeln gefressen und nein, versprochen: Ich möchte niemandem zu nahe treten.
Aber ja: Ich kämpfe leidenschaftlich für eine innovative und zeitgemäße Form von Kirche, die sich mehr auf ihren Inhalt als auf ihre Form stürzt oder wie es unsere anglikanischen Geschwister sagen würden: Lieber eine “mission shaped church” als eine “church shaped mission”.
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