Dieses Buch hat mich aktuell wie kaum ein anderes Buch theologisch begeistert und herausgefordert zugleich. Ich hörte mich mehrmals “Ja und Amen” rufen (natürlich nur leise und innerlich) und sah mich gleichzeitig mehrfach den Kopf auf die Tischkante schlagen – natürlich nur im übertragenen Sinne.
Genie und Wahnsinn. Wahrheit und Irrlehre. Herausfodernd und überfordernd. Ich hoffe, spätestens jetzt deine volle Aufmerksamkeit für dieses Buch zu haben, denn: Ich kann es dennoch von Herzen empfehlen, vor allem Menschen, die theologisch differenziert denken können.
Alan Platt beschreibt in “City Changers” im Prinzip nichts anderes als seinen ganz persönlichen Mindset-Wechsel, den er vor Jahren vollzogen hat.
Und ab da begann eine faszinierende Reise, die in der Gründung der “Doxa Deo” Gemeinde (www.doxadeo.org). Das Grundverständnis dieser Gemeinde – und das für Platt gleich zu Beginn des Buches aus – besteht aus dem Verhältnis, welches das Volk Gottes in seinem Exil im 6. Jahrhundert vor Christus zu Babylon hatte – oder gehabt haben sollte, wie es bspw. bei den Propheten Daniel und Jeremia überliefert ist und in einem Vers wohl am besten beschrieben werden kann:
Ein beeindruckendes “Konzept”
Platt stellt in “City Changers” das gesamte Konzept vor, das aus seinem Verständnis von Gemeinde und ihrer Beziehung zur Gesellschaft heraus resultiert. Und dieses ist wirklich beeindruckend und mehr als nur ein “Konzept”.
Es spiegelt eine Haltung wider, welche sich nicht kontrakulturell sondern inkulturell versteht. Gemeinde als Gemeinschaft von Christen, die wiederum Teil einer gesellschaftlichen und politischen Gemeinschaft ist. Das vergessen leider viele Gemeinden bzw. Christen, wenn sie über ihre Gemeinde nachdenken. Nicht umsonst betitelt sich der “deutsche Zweig” von Doxa Deo als “Die Stadtreformer” (www.die-stadtreformer.de). Es geht also um nichts weniger als die Transformierung einer Gesellschaft, indem Christen ihre Identität als Teil dieser Gesellschaft wahrnehmen und “von innen heraus” diese Gemeinschaft verändern.
Das alles ist nicht neu – vor Jahren tauchte die “Emerging Church” auf, tauchte Jahre später wieder ab, es entstand in der Theologie der Begriff “missional“, stark geprägt von der “Fresh Expressions“-Bewegung der anglikanischen Kirche und jetzt eben “City Changers” – oder “Die Stadtreformer“.
Theologisch sicherlich herausfordernd ist die immer wiederkehrende Betonung, dass die Allmächtigkeit Gottes bedeutet, dass er Herr über alles ist – und mit alles, ist alles gemeint. Für manch evangelikalen im dualistischen Denken groß gewordenen Christen sicherlich eine Herausforderung, die aber absolut wichtig und richtig ist. Sehr hilfreich ist an dieser Stelle eine Grafik im Buch (S. 81), die sich auch auf www.die-stadtreformer.de findet, in welcher die Gesellschaft in verschiedene Bereich eingeteilt wird und aufzeigt, wie wir als Christen in dieser Gesellschaft zu “City Changers” werden.
Nichts Neues unter der Sonne?
Könnte man meinen, aber genau hier setzt “City Changers” auf brillante Weise an – weshalb ich das Buch auch sehr zum Lesen empfehle. Denn in City Changers bekommt der Leser in gewisser Weise eine “Methodologie” an die Hand, die sich nicht nur aus theoretischen Zahlen und Fakten speist, sondern den Weg aufweist, den Doxa Deo bzw. “Die Stadtreformer” gegangen sind und immer noch gehen.
Der Leser bekommt ganz praktische Tipps und Ideen an die Hand, wie er in seiner Gemeinde selbst “Stadtreformer” ausbilden, trainieren und befähigen kann – aber noch viel wichtiger: Dem Leser erschließt sich sowohl theologisch als auch kybernetisch die Mechanismen und Ideen, welche grundlegend wichtig sind, um als Gemeinde, als Christen “Jesus in deiner Welt sichtbar zu machen”. Denn darum geht es, wie der Untertitel des Buches es zum Ausdruck bringt.
Darüber hinaus – so habe ich es zumindest verstanden – legt “City Changers” bzw. das dahinterliegende Gemeindeentwicklungskonzept viel Wert und vielleicht sogar den Schwerpunkt darauf, dass sich Gemeinde als Gemeinschaft vieler Stadtreformer versteht und ihr Hauptaugenmerk nicht darauf richtet, welche Programme geboten werden, sondern wie ihre Mitglieder zu “Stadtreformern” werden. Das bedeutet in erster Linie, eine entsprechende Haltung anzunehmen wie Daniel im babylonischen Exil – gleichzeitig aber konkret Einfluss nehmen, dort wo sie stehen.
Theologische Problemanzeige
Je mehr ich mich mit dem Buch befasste (und ich habe es sehr lange, sehr aufmerksam, sehr intensiv gelesen und lange mit dieser Rezension gewartet) desto deutlicher wurde, wo ich die im Anfang schon beschriebenen theologischen Probleme sehe.
Aber wenn das stimmt, warum sehen wir Gott nicht überall auf der Welt Wunder tun? Wenn Gottes Macht ein Schlüssel für die Veränderung Babylons ist, warum sind Wunder dann so dünn gesät?
Ich glaube, es liegt daran, dass die Christen nicht darauf vertrauen, dass Gott Wunder tut. Vielleicht wurde ihnen auch eingeredet, dass Gott an ihrem Ort keine Wunder tun will. In der Bibel finden wir Anzeichen dafür, dass Jesu Macht in gewisser Weise eingeschränkt war, vielleicht durch ihn selbst, wenn er sich an Orten befand, an denen die Menschen nicht an ihn glaubten (vgl. Matthäus 13,58). Es scheint ein Prinzip zu sein, dass die wunderbare Macht Gottes nur selten an Orten oder in Menschen sichtbar wird, die Gottes Eingreifen nicht erwarten.City Changers, S.230.
Klingt auf den ersten Blick plausibel, nicht wahr? Ist es aber beim besten Willen nicht, weil dem Menschen hier viel zu viel Macht gegeben wird. Wenn es am menschlichen Vertrauen liegt, ob Gott Wunder tut oder nicht, bestimmte letzten Endes der Mensch über die Wirksamkeit Gottes und steht über Gott selbst. In ähnlicher Weise kommen diese Gedanken im Buch immer wieder vor, vor allem dann, wenn es darum geht “Mehr Himmel auf die Erde zu bringen” – ein weiterer Slogan und Schlagwort, das ich ebenfalls kritisch sehe, weil wir dazu nicht berufen sind.
Es liegt in Gottes alleiniger Souveränität, wo und wie er wirkt. Die Aufgabe von Christen ist lediglich, Jesus in dieser Welt zu bezeugen – aber wie sagt Jesus in seinen letzten Worten auf Erden: “Mir ist gegeben alle Macht, im Himmel und auf Erden” (Matthäus 28,18).
Dennoch empfehle ich dieses Buch von Herzen gerne weiter. Kein Mensch hat für sich “die wahre Lehre” gepachtet – du und ich, wir haben alle unsere kleinen und großen “Irrlehren” – insofern: Kritisch lesen, das Gute behalten – denn davon gibt es jede Menge in diesem Buch!