Tiefe und authentische Beziehungen. Nicht jeder gibt es zu, aber wir alle wollen genau diese Art von Beziehung. Nicht die oberflächlichen, seichten und wenig inspirierenden. Nur: Wie kommt man da hin? Wie schafft man es, Beziehungen zu leben – ob in Partnerschaft oder Freundschaften – die eben genau so sind?
Darum geht es in “Ich mag dich fast so wie du bist” – ein Buch, das einen wesentlich besseren Titel verdient hätte. Denn er suggeriert in meinen Augen etwas vollkommen Falsches, um das es im Buch selbst nur periphär geht.
Um was es wirklich geht, lässt sich aber gar nicht in wenigen Worten erklären. Klar – um Beziehungen. Aber im Prinzip geht es um viel mehr.
Intimität, Vertrautheit und Verletzlichkeit
Drei Begriffe, die sich wie ein roter Faden durch das Buch ziehen. Intimität erzeugt Vertrautheit – Basis aller tiefen Beziehungen. Das aber geht nicht, ohne sich selbst verletzlich und verwundbar zu machen. So könnte man Ortbergs Gedanken zum Thema “echte und tiefe Beziehungen” zusammenfassen. Grundlegend dafür ist ein ganz einfacher Satz vno Dallas Willard – ein großartiger Theologe und Philosoph, den Ortberg an verschiedenen Stellen immer wieder ins Spiel bringt.
Klingt sehr simpel – ist es aber bei genauerer Betrachtung überhaupt nicht. Gemeinsame Erfahrungen zu machen bedeutet nämlich, ehrlich zu sich selbst und zum anderen zu sein.
Selbsterkenntnis und das wissen um die eigene Unvollkommenheit und den Zustand der eigenen Seele ist das eine – Annahme das andere:
Selbsterkenntnis allein genügt also nicht. Zu echter Vertrautheit gehört auch das Geschenk der Annahme, das uns die Selbsterkenntnis nicht machen kann.
Ich mag dich fast so wie du bist, S. 121Zusammengefasst als kleine und einprägsame mathematische Gleichung:
Die goldene Regel tiefer Beziehungen
Sie findet sich schon in der Bibel, so Ortberg:
So weit so gut. Recht überzeugend macht Ortberg im Folgenden deutlich, weshalb diese goldene Regel im Prinzip unser ganzes Leben und das unseres Gegenübers umfasst. Nur – und darauf geht er leider sehr wenig ein – ist nicht jeder Mensch ein Empathie-Genie. Es gibt nun einfach Menschen, denen es schwerer fällt als anderen, sich in ihr Gegenüber hinein zu versetzen und den anderen zu “erfühlen”, wie Ortberg es nennt. Schade, denn ich glaube, dass eine gewisse Empathie-Legasthenie sich immer weiter ausbreitet in unserer Gesellschaft. Da wäre ein Hinweis darauf sicherlich hilfreich gewesen.
Zumal Ortberg in diesem Zusammenhang einen sehr, sehr wichtigen Hinweis bringt und ihn brillant zusammenfasst. Die Gefahr bei aller Empathie und Betonung unserer Gefühle (was Trauer und Freude zumindest teilweise definitiv sind) ist, dass wir uns über sie definieren. Aber genau das ist nach Ortberg grundlegend falsch.
Wer meint, dass sich “Ich mag dich fast so wie du bist” nun wie eine tränenreiche Seelsorgelektüre anfühlt – keine Sorge: Auch in diesem Buch brilliert Ortberg mit seinem Humor. Wie er sich selbst (und seine Familie) auf die Schippe nimmt, sucht seinesgleichen. So kennt man ihn, das weiß man von ihm. Gleichwohl habe ich den Eindruck, dass es Ortberg in diesem Buch zwar nicht übertreibt, aber schon ein wenig auf die Spitze treibt. An manchen Stellen musste ich zwei mal lesen, um mir klar zu machen, dass er sich grad selbst auf den Arm nimmt. So viel “Eigenhumor” ist bei einem so tiefen Thema in meinen Augen sehr hilfreich – zeigt er doch (und so sehe ich Ortbergs Motivation, mit so viel Humor zu schreiben): “Schaut her, liebe Leser: Ich hab’s auch noch nicht ergriffen! Ich bin einer von euch!” Und das nehme ich Ortberg voll und ganz ab, zumal wenn man um die manchmal verworrenen Wege seiner selbst und seiner Kinder weiß, die auch jüngst in den Medien zu lesen waren.
Beziehungen aller Art sind gemeint
“Ich mag dich fast so wie du bist” ist kein Eheratgeber, auch wenn ich nach dem Lesen den Eindruck habe, dass Ortbergs Gedanken und Tipps hauptsächlich in einer Ehe Widerhall finden würden. Gleichzeitig aber sind es auch sehr hilfreiche Gedanken für alle, die sich fragen, wie sie bspw. gute Freundschaften aufbauen und pflegen können. Und wenn man noch einen Schritt weiter geht: “Ich mag dich fast so wie du bist” ist ein Buch voller wertvoller Gedanken für alle, die sich schwer damit tun, sich anderen Menschen zu öffnen und tiefe Beziehungen eingehen.
Denn eines wird deutlich: Jede Beziehung – ob Freundschaft oder Ehe – beruht auf zwei Personen und beide haben etwas beizutragen – und beide müssen etwas beitragen. Sonst funktioniert “das Ganze” nicht.
Natürlich ist einer der größten Verhinderungsfaktor von tiefer Beziehung die Frage nach Scham und Ablehnung. Auch darauf geht Ortberg schon sehr seelsorgerlich und biblisch begründet ein – das sind sehr, sehr wertvolle Gedanken und Seiten, die man sich hier zu Gemüte führt.
Und dann führt Ortberg diese Gedanken auf absolut brillante Weise aus anhand der biblischen Erzählung von der Frau, die Jesus am Jakobsbrunnen begegnet ist. (Johannes-Evangelium, Kapitel 4) Alleine dafür lohnt es sich, das Buch zu kaufen.
Gleichzeitig aber darf sich keine Beziehung, mag sie noch so intim und vertraut sein, nur um sich selbst drehen, was Ortberg mit dem wunderbaren Gedanken verdeutlicht:
Diesen Gedanken führt Ortberg sogar weiter im Blick auf eine Gemeinde, die auf Stagnation und Tod zuläuft, wenn sie sich nur um sich selbst dreht.
Wer nun meint, dass sich Ortberg in Theorien verliert, irrt. Er bringt viele praktische Beispiele genauso wie ganz konkrete Tipps für den Alltag, um Beziehungen in die Tiefe gehen zu lassen. Insofern liefert das Buch sowohl wertvolle theoretische und biblisch fundierte Gedanken wie auch praktische Ratschläge, um Beziehungen in die Tiefe zu führen.
Brillant (ich wiederhole mich mit diesem Wort, ich weiß, aber es ist einfach so) ist sein Vergleich von Psalm 139 und der Frage nach der heutigen Technologie. Aber – das würde hier nur zu viel Spoiler sein – lieber das Buch kaufen und selbst lesen.