Komische Überschrift? Abwarten. Die ist gar nicht so verkehrt.
Ich lese gerade im Buch “Gott ungezähmt” von Johannes Hartl und komme zu folgendem Abschnitt. (Hinweis: Stell vorsichtshalber deine Kaffeetasse weg – sie könnte sonst über dem Laptop landen, weil sie dir aus der Hand fällt):
“Während der gutmütige Pfarrer über den Regenbogen als Hoffnungszeichen für die Menschen predigt, zu mehr Mitmenschlichkeit aufruft und den Gläubigen versichert, die drastischen Worte Jesu im Evangelium über Hölle und Gericht seien nur Bilder und seine Wunder keineswegs historische Fakten, surft ein junger Mann in der näheren Umgebung, um sich über Voodoo zu informieren. Der Gottesdienst findet mittlerweile in der gut geheizten Kirche statt. Über Fasten, Spenden oder voreheliche Enthaltsamkeit wird hier nie gepredigt und jeder Gottesdienstbesucher kann beruhigt sein: Hier wird ihm niemals dreingeredet.
Zum Beginn des Schuljahres werden alle Kinder nach vorne geholt und bekommen vom Diakon ein Geschenk, am späten Nachmittag dann die Haustiersegnung. In einem benachbarten Kloster findet ein Kurs für meditatives Malen statt und in jeder Bahnhofsbuchhandlung kann man sich darüber informieren, dass eine Wanderung nach Santiago de Compostela auch der eigenen ganzheitlichen Weiterentwicklung dient. Fasten nur, wenn es der Entschlackung hilft. Buße nur, wenn man sich deshalb psychologisch ausgeglichener und daher besser fühlt. Die “Lass-uns-mal-drüber-reden”-Spiritualität, die auch vor dem Beten nicht Halt macht. Beten nicht als anbeten, sondern kumpelhafter Austausch. Religiöse Anstrengung, das passt nicht ins Anforderungsprofil einer Wellness-Religion von heute, stört nur in unserer spirituellen Komfortzone.” (S. 56f)
Als ich diese Zeilen las, dachte ich: So treffend. So realistisch. So wahr. Und so traurig.
Alles muss sich um das eigene Ego drehen – auch Gott. Solange sich das Ego bei der ganzen Geschichte noch wohlfühlt, ist es in Ordnung. Solange das Ego seine Bedürfnisse stillen kann, ein wenig Balsam für die Seele bekommt – solange ist es gut. Solange kann das Ego in die Kirche gehen. Solange kann das Ego an Gott glauben.
Aber das ist nichts weiter als eine billige Mogelpackung und wird dich kein Stückchen weiterbringen – weder im Leben, noch im Glauben, noch im Sterben. Noch danach!
Paulus dreht den Spieß um und schreibt in seinem Brief an die Gemeinden in Galatien:
Nicht mehr ich bin es, der lebt, nein, Christus lebt in mir. Und solange ich noch dieses irdische Leben habe, lebe ich im Glauben an den Sohn Gottes, der mir seine Liebe erwiesen und sich selbst für mich hingegeben hat. (Galater 2,20)
Und weil ich glaube, dass die Bibel nicht nur Gottes Wort enthält, sondern Gottes ewig gültiges und so tiefes Wort an mich ist, glaube ich, dass Paulus einen regelrechten Gegenentwurf zum “Selfie-Glauben” unserer Zeit entwirft. Und noch schlimmer – oder besser, je nachdem, was dein Ego grad so macht: Dieser Gegenentwurf ist das, was Gott sich für das Leben des Menschen vorgestellt hat.
“Nicht mehr ich bin es, der lebt, nein, Christus lebt in mir.” Wow. Diese Vorstellung ist von bahnbrechender Schönheit. Christus lebt in mir. Mein Ego wird verdrängt. An seine Stelle kommt Christus. Aber nicht irgendein Christus. Ich meine – die gibt es ja zuhauf, wenn man so landauf landab mit offenen Augen und Ohren durch die kirchliche Landschaft tingelt. Was einem da alles verkauft wird als “Christus”.
Aber wie beschreibt es Paulus?
“…der mir seine Liebe erwiesen und sich selbst für mich hingegeben hat.”
Ups. Knackpunkt. Sühne. Uncool. Passt auch nicht in diese Wellness-Religionsschiene. Ein Gott, der sich für mich hingibt? Ein Gott, der für mich stirbt? Ein Gott, der sein Leben an meiner Stelle in den Tod gibt, damit ich frei bin und mein Ego nach und nach gleichgeformt wird mit Christus? Alter Schwede. Starker Tobak für einen Montagmorgen, was?
Ich glaube aber, dass der Hund genau hier begraben ist oder anders gesagt: Das Ego könnte genau hier zu Grabe getragen werden.
Es ist ja leicht zu sagen, dass ich an Jesus glaube. Dass sein Tod eine Relevanz für meinen Glauben hat.
Wenn dem so ist, betrifft das auch mein Ego. Meine Schaltzentrale. Die innere Hauptplatine. Das Kontrollzentrum meines Lebens. Und da ist jetzt eben die Frage: Darf da Jesus sitzen oder mein Ego?
Wahrscheinlich ist das die entscheidende Schwelle, die noch genommen werden muss, damit passiert, was Paulus an anderer Stelle schreibt:
Gehört jemand zu Christus, dann ist er ein neuer Mensch. Was vorher war, ist vergangen, etwas Neues hat begonnen. (2. Korinther 5,17)
Und das hat ganz unweigerlich Auswirkung auf unsere Gemeinden. Wir würden es nämlich schaffen, Gemeinde so zu leben, dass sie wirklich die Hoffnung dieser Welt ist, weil wir uns nämlich nicht um uns selbst drehen, sondern um die Menschen, die noch ihrem eigenen Ego hinterherrennen und sich von ihrem Ego bestimmen lassen und nicht von dem Gott, der sie liebt.
Mich begeistert der Gedanke immer mehr, dass eine solche Gemeinde alles daran setzen würde, wie sie anderen Menschen dient – und wie sie Gott dient. Wie sie andere Menschen einlädt in eine Beziehung zu diesem Gott – und wie sie die Größe, die Erhabenheit, die Heiligkeit, das Faszinosum Gottes wieder neu entdeckt und einfach nur staunend und anbetend vor ihm steht, kniet, liegt, singt, tanzt, weint…was auch immer.
Ich wünsche mir so sehr, dass diese Neuschöpfung auch zu einer Neuschöpfung der Gemeinde kommt. Dass nicht mehr von “Ich will…” sondern von “Lasst uns…” die Rede ist. Dass wir mehr und mehr damit rechnen, hoffen, darum beten und ringen, dass Gott übernatürlich (übrigens: genau mit diesem einen Wort wird die Predigtreihe der evangelischen Kirchengemeinde Wutachtal von Pfingsten bis zu den Sommerferien überschrieben sein) eingreift in diese egozentrische Welt….und Kirche.
Und das bedeutet natürlich auch, dass wir den unbequemen Wahrheiten der Bibel nicht aus dem Weg gehen. Und auch, wenn es eine eigene Blogbeitragsserie wert wäre, nur so viel dazu: Viele Entwicklungen innerhalb der Kirche – und damit schließe ich ausdrücklich auch die Freikirchen mit ein -, die sich mehr und mehr auf Diesseits konzentrieren sind gleichsam Grund und Folge dieser Selfie-Kirche. Und vieles davon ist nichts anderes als liberale Theologie in einem frommen Gewand.
Zu diesen unbequemen Wahrheiten gehört das, was Johannes Hartl in dem Abschnitt in seinem Buch schreibt. Ich habe über das Fasten, Enthaltsamkeit, Spenden, Hölle und Gericht relativ wenig gehört in den letzten Jahren in unserer Kirche – und andererseits reicht ein Blick in die weltweite Christenheit, dass dort, wo man sich dieser unbequemen Wahrheit stellt und sie zur Sprache bringt, die Kirchen und Gemeinden wachsen.
Gut, das wird jetzt seitens der westlichen Kirche oft als “charismatische Auswüchse, die auch wieder vorbeigehen” bezeichnet, aber das ist genauso, wie man vor einigen Jahren sagte: “Das Internet ist nur eine sporadische Erscheinung. Durchsetzen wird sich das nicht.”
Lasst uns (ich lerne selbst aus meinem Geschreibe) ganz neu die Größe und Heiligkeit Gottes ernst nehmen – und damit auch das, was eben nicht auf Anhieb runtergeht wie Öl. Aber es lohnt sich. Daran wird Kirche und Gemeinde wachsen – und das wird jedem gut tun, der mit solch einer Gemeinde in Berührung kommt.
Ach ja: Das eingangs erwähnte Buch “Gott ungezähmt” trägt übrigens den Untertitel: “Raus aus der spirituellen Komfortzone”. Wie treffend. Ich nehme es mir vor. Ich will es. Zumindest versuchen. Und bin gespannt!
Nachtrag (29.02.2016):
Da der Artikel munter auf Facebook geteilt und diskutiert wird, habe ich dort einen Kommentar geschrieben, den ich hier noch als Ergänzung bringen möchte, da er meines Erachtens vor Missverständnissen schützen kann:
“Ich möchte noch eine wichtige Unterscheidung reinbringen, die im Artikel fehlt: Es geht um das Ego als das “Selfie” im Sinne von “Auf sich selbst fokussiert” – und NICHT um das Individuum als der von Gott einzigartig und wunderbar erschaffene Mensch. Denn dann wäre es in der Tat wenig wertschätzend und nicht liebevoll – aber für mich gibt es eben einen Unterschied zwischen “Ego” und “Individuum”.”