Weltweit wächst das Christentum – aber in Deutschland befinden sich die beiden großen Kirchen davor, gegen die Wand zu fahren. Was macht ein leidenschaftlicher (evangelischer) Pfarrer angesichts dieser Diskrepanz? Er schreibt nicht einfach nur ein Buch. Er bringt seine ganze Leidenschaft für Jesus, sein Know How in Sachen Gemeindeaufbau und Kirchenentwicklung sowie seinen gesamten Erfahrungsschatz an globaler Weite und Erfahrungen mit Gemeinden in anderen Ländern zu Papier.
Heraus kommt ein Buch, das die Kraft besitzt, die Abwärtsspirale der evangelischen Kirche in Deutschland aufzuhalten. Meiner bescheidenen Meinung nach aber nur dann, wenn die “Basis” diese Buch liest, da erfahrungsgemäß kirchliche Amt- und Würdenträger veränderungsresistent sind.
Alexander Garth (www.alexandergarth.de) schafft es, in “Untergehen oder umkehren. Warum der christliche Glaube seine beste Zeit noch vor sich hat” eine Sprache zu finden, die jeder versteht, dem Kirche am Herzen liegt. Man muss nicht Theologie studiert haben und findet hier dennoch Tiefe und Weite gepaart mit auf den Punkt gebrachten Zustandsbeschreibungen, dass es die reinste Freude ist, dieses Buch zu lesen.
Größtenteils bezieht sich seine Darstellung von “Kirche” auf die Evangelische Kirche in Deutschland, immer wieder aber betont Garth, dass die Katholische Kirche in Deutschland mit ähnlichen Problemen zu kämpfen hat.
Was Kaiser Konstantin uns eingebrockt hat
In einem ersten Teil holt Garth weit aus – und das ist gut so! Beginnend in den ersten Jahrhunderten der Christenheitsgeschichte über das Mittelalter, die Reformation bis heute schildert er die Zusammengänge, die deutlich machen, weshalb die Evangelische Kirche so verfasst ist, wie sie es ist: mit Kirchensteuer, Parochialprinzip (die Zugehörigkeit zu einer Gemeinde auf Grund des Wohnsitzes) bis hin zum leidigen und lästigen Beamten- und Verwaltungsapparat. Was sich hier vielleicht etwas trocken anhört, wird im Buch in einer rasanten Fahrt durch die Jahrhunderte skizziert, öffnet Augen und Ohren und sorgt für einige Aha-Effekte. Versprochen!
Es ist immer gut, die Geschichte zu kennen, ehe man in die Zukunft schaut – oder anders gesagt: Manchmal braucht es eine Wurzelbehandlung (oder zumindest eine Betrachtung), dass man wieder richtig zubeißen kann.
Und bei allen positiven Errungenschaften, die es durch diverse Kaiser und Regenten gab, wurde leider auch der Grundstein für eine Art “Staatskirche” gelegt, die in unserer heutigen Zeit so viele systemimmante Probleme mit sich bringt.
Das Problem jedoch sieht Garth nicht alleine in den Strukturen, sondern vielmehr in den Inhalten und Positionen einer so entstandenen Volkskirche. Was in den vergangenen Jahrhunderten noch einigermaßen funktioniert haben mag, dass man eben “am Sonntag zur Kirche geht”, zeigt sich in der Postmoderne nun als großes Problem, könnte man meinen. Aber genau darin sieht Garth eine große Chance und sozusagen die Begründung des Buchtitels:
Das ist übrigens nur einer von ganz vielen Gründen, weshalb ich fasziniert bin von Alexander Garth und seinem Wirken: Er sieht nicht die Probleme, er sieht die Chancen! Das zieht sich wie ein roter Faden durch sein persönliches, berufliches Wirken, aber auch durch dieses Buch.
Kirche muss sterben, um zu leben
Zugegeben: Ein wenig reißerisch ist es von mir schon formuliert, aber so verstehe ich Garth, wenn er beschreibt, was die zwei Grundprobleme sind bzw. die zwei ganz grundsätzlichen Herausforderungen, denen sich die Evangelische Kirche in Deutschland momentan gegenüber stehen sieht.
Garth nennt es zu Beginn seines Buches zwei “Sterbeprozesse”, denen sich Kirchen stellen muss, die sie annehmen muss und die sie bewältigen muss. Was Garth dann im weiteren Verlauf des Buches entfaltet, sind die Antworten, die Modelle, die Notwendigkeiten, wie Kirche auf diese beiden Sterbeprozesse reagieren soll.
Im Change Management ist immer wieder vom “Goldenen Kreis” (zurückgehend auf Simon Sinek) die Rede. Drei konzentrische Kreise, die jeweils eine Frage in sich tragen. Von innen nach außen: Warum? Wie? Was?
Geht man – zurecht – davon aus, dass Kirche sich ändern muss, sollten wir zuerst nach dem “Warum?” fragen. Und dieses “Warum?” beantwortet Garth mit eben diesen beiden Sterbeprozessen:
1. Das Volkskirchenmodell (S. 19)
2. Das liberale Denkraster (S. 25)
Beides führt Garth im Laufe des Buches immer wieder aus, aber da gerade “liberal” kein einheitlich gebrauchter Begriff ist (liberale Politik ist etwas anderes als liberale Theologie), finde ich seine Definition eines “reduktiv liberalen Denkrasters” äußerst hilfreich:
Im Folgenden geht Garth darauf ein, welche Denkraster und Denkverbote eine “reduktiv liberale Theologie” erzeugt und spart nicht mit markigen Sätzen – unter anderem auch über den Theologen Rudolf Bultmann, der im vergangenen Jahrhundert in Deutschland einen immensen Einfluss auf angehende (und schon im Beruf tätige) Pfarrer hatte durch sein Versuch der “Entmythologisierung”:
Garth identifiziert also – wie ich finde vollkommen treffend und zurecht – das Volkskirchenmodell als Grund allen Übels auf einer strukturellen Ebene sowie reduktiv-liberale Theologie und Denkraster auf einer inhaltlichen Ebene.
Immer wieder taucht der Begriff einer “beschädigten Christologie” auf, die aus dieser liberalen Theologie entsteht. Setz dich hin, stell den Kaffee zur Seite und lies das folgende Zitat, dem ich vollkommen zustimme und das meiner Meinung nach das theologische und geistliche Desaster der Evangelischen Kirche in Deutschland treffend beschreibt.
Fast schon gebetsmühlenartig wiederholt Garth diese beiden “Kernprobleme” in seinem Buch – aber ich befürchte: Genau diese dauerhafte Wiederholung ist notwendig, bis es so viele wie möglich kapiert haben, dass die Evangelische Kirche ein strukturelles und ein theologisches Problem hat und sämtliche Reformprozesse, welche diese beiden Probleme nicht in Angriff nimmt, zum Scheitern verurteilt sind.
Die Lösung des Problems
Garth wäre nicht Garth, wenn er nicht positiv, optimistisch und voller Leidenschaft nach vorne schauen würde. Mit gleichem Elan, wie er den Zustand der Kirche beschreibt (und wer nicht mindestens einmal zumindest im Geiste “Aha” gerufen, sich an die Stirn gehauen hat oder einen innerlichen Schmerz verspürt hat, wird noch nicht ganz auf dem richtigen Weg sein), beschreibt er auch, was seiner Meinung nach den christlichen Glauben und die Gemeinschaft der Christen in eine Zukunft voller wachsender und missionarisch orientierter Gemeinden führt.
Hier erwähne ich drei Bereiche des Buches, die sich teilweise konzentriert am Ende finden – teilweise aber auch über das gesamte Buch sich immer wieder erstrecken.
1. Globales Denken
Garth war in Indien, in Afrika, in Asien, in Australien und in Amerika. Er selbst ist Pfarrer in Wittenberg – also nahezu gesamtkontinental vernetzt und mit vielen, vielen Erfahrungen gesegnet. Zurecht schreibt er:
2. Progressiv vs. konservativ
“Wie muss denn nun Kirche sein?” fragst du dich spätestens jetzt. Gibt es diese eine bestimmte Form? Nein, die gibt es nicht. Aber sie hält die Spannung zwischen “konservativ” und “progressiv” aus. Sie ist konservativ in ihrer Theologie und gleichzeitig progressiv in ihrer Form. Oder um es mit Garth zu sagen:
3. 12 Leitsätze der Hoffnung
Garth endet sein begeisterndes, leidenschaftliches und richtungseisendes Buch mit 12 Leitsätzen. Diese fassen kurz und prägnant zusammen, was er auf den Seiten zuvor entfaltet hat und bieten sich wunderbar an, um in Kirchenvorständen, in Pfarrkonventen, in Kirchenleitungen und Oberkirchenräten darüber zu diskutieren – aber vor allem eines: Die richtigen Schlüsse daraus zu ziehen.
Ich empfehle dieses Buch von Herzen! Es bringt sehr deutlich zur Sprache, wo das Problem liegt – aber es macht Hoffnung, unglaublich viel Hoffnung:
Alexander Garth schreibt nicht als Theoretiker, sondern als leidenschaftlicher, weiser, intelligenter und sehr erfahrener Praktiker, Pfarrer und Gemeindegründer. Eine absolute Empfehlung für alle, die im 21. Jahrhundert nicht nur über den Niedergang jammern, sondern am Aufbruch und an der Erneuerung der Kirche beteiligt sein wollen.
Was dieses Buch besonders auszeichnet auf dem Markt der Analysen und Prognosen über den Zustand der Kirchen, ist seine theologische und sprachliche Klarheit. Garth redet nicht um den heißen Brei herum, wie das sonst viele Autoren und Verfasser der heutigen Zeit tun, um ja niemandem auf den Schlips zu treten. Garth tut dies bei aller Schärfe dennoch wertschätzend und fair.
Einziges Manko: Dem grandiosen Inhalt des Buches steht in meinen Augen ein ebenso grandioses Cover und Layout zu. Daran sollte der Verlag bei der – hoffentlich – zweiten Auflage dringend arbeiten.
www.eva-leipzig.de/product_info.php?info=p5142_Untergehen-oder-Umkehren.html