StartMedienAngst, Glaube, Zivilcourage

Angst, Glaube, Zivilcourage

Wie viele Finger kann man eigentlich in eine Wunde legen?

Wie sehr kann man den Nagel auf den Kopf treffen?

Wie viel unbequeme Wahrheit passt zwischen zwei Buchdeckel?

Willkommen in der Welt von „Angst, Glaube, Zivilcourage. Folgerungen aus der Corona-Krise“. Ein Buch mit Vorgeschichte, die nicht unerwähnt bleiben darf.

Depublikation der Erst-Version

Im Jahr 2023 wurde das Buch unter dem Titel „Angst, Politik, Zivilcourage. Rückschau auf die Corona-Krise“ in der Evangelischen Verlagsanstalt (EVA) publiziert und nur wenige Monate danach wieder depubliziert, also vom Markt genommen. In der Geschichte der EVA ein einmaliger Vorgang. Grund dafür war ein Beitrag von Heimo Schwilk, der „demokratiefeindliche und antisemitische“ Narrative bedient haben solle laut Deutschlandfunk. Verifizieren konnte ich diesen Vorwurf nicht, da dieser Beitrag sich in der komplett überarbeiteten Fassung des vorliegenden „neuen“ Buches nicht mehr wiederfindet.

Insofern erachte ich es durchaus als ein mutiges Vorgehen des R.Brockhaus-Verlages, dem überarbeiteten Buch eine zweite Chance zu geben. Und ich nehme es vorweg: Das war die richtige Entscheidung. Die Beiträge in „Angst, Glaube, Zivilcourage. Folgerungen aus der Corona-Krise“ sind in unterschiedlicher Intensität sicherlich nicht das, was man als „journalistischen Mainstream“ zur Corona-Zeit benennen könnte.

Und natürlich sind in solch einem Sammelband verschiedener Beiträge nicht alle von gleicher Qualität und hier und da blitzt an manchen Stellen für mich zu viel Polemik durch. Aber – und das ist sicherlich auch subjektiv – der mit Abstand größte Teil des Buches ist sachlich und der Aufarbeitung der Corona-Zeit dienlich.

Unterschiedliche Perspektiven zur Corona-Aufarbeitung

Zu Wort kommen verschiedene Autoren, die aus verschiedenen Perspektiven die „Corona-Zeit“ beleuchten. Dies geschieht aus medizinischer, psychologischer, soziologischer und geistlich-theologischer Sicht. Zu den Autoren gehören unter anderem mit Christiane Lieberknecht, Kristina Schröder (ehemalige Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend im Kabinett Merkel II) und Alexander Kissler (NZZ, Nius) Personen, die dem (gesellschafts-)politisch konservativen Lager angehören.

Im ersten Teil des Buches spielt Angst eine sehr zentrale Rolle. Unbestreitbar ist, dass viele Entscheidungen von Politikern aber auch viele Handlungen des „ganz normalen Bürgers“ in dieser Zeit von großer Angst und Unsicherheit getrieben waren.

So schreibt Sebastian Kleinschmidt bezeichnenderweise:

Angst lehrt beten. Auch diejenigen, die noch nie gebetet haben. Und nicht nur das. Beten ist auch ein wirksames Mittel gegen sie. Die Angst drückt von außen nach innen, das Gebet löst von innen nach außen.Angst, Glaube, Zivilcourage, S.37

Im Verlauf des Buches und in verschiedenen Beiträgen wird die Rolle des Staates und der Medien unter dem Aspekt der Auswirkungen ihrer Handlungen auf die Bevölkerung genauer bewertet. Es mag nicht jedem passen, aber ich finde es vollkommen zutreffend, was André Kruschke schreibt:

In der Corona-Politik verstärkte sich der bereits vorher deutlich wahrnehmbare Trend, wonach sich Medien nicht mehr in der Rolle sahen, die Regierenden, sondern die Regierten zu kontrollieren – ein Verhalten, das seitdem bei vielen anderen Themen Anwendung findet.Angst, Glaube, Zivilcourage, S.66

Kristina Schröder fragt deshalb vollkommen zurecht:

Wie konnten wir Menschen solche Dinge antun? Was war das für ein unbarmherziger Rigorismus, der sich plötzlich in unserem Land breitmachte? Warum standen nur so wenige auf und sagten laut und vernehmlich: „Stopp! Das darf man nicht, völlig egal, ob es einen epidemiologischen Nutzen bringt oder nicht. Weil es den Wesensgehalt von Grundrechten, wahrscheinlich sogar die Würde des Menschen verletzt und weil der Zweck niemals die Mittel heiligt!“?Angst, Glaube, Zivilcourage, S.106

Des weiteren betrachtet sie als ehemalige „Familienministerin“ natürlich auch die Auswirkungen der Corona-Maßnahmen im Blick auf Kinder und Jugendliche und kommt zu dem Schluss:

Kinder und Jugendliche wurden in Deutschland in der Pandemie benutzt. In der Hoffnung, dass andere Teile der Gesellschaft davon einen Nutzen haben, wurden ihnen drastische Dinge angetan. Und da das Virus für sie weitgehend ungefährlich war, hatten sie praktisch keinen Nutzen von den Maßnahmen, aber beträchtlichen Schaden.Angst, Glaube, Zivilcourage, S.108

Das sind starke Worte. Das ist eine treffende Analyse der Umstände und Zustände in einer der wohl herausforderndsten Zeiten unserer Zivilgesellschaft.

Und die Kirche?

Die Frage nach der Bewertung kirchlichen Handelns ist für mich als Pfarrer der evangelischen Kirche natürlich von besonders großem Interesse gewesen bei der Lektüre des Buches. Im Zeichen des kritischen Gesamt-Duktus des Buches kommt die Kirche (leider) auch nicht besonders gut weg, wobei ich die Vorwürfe und kirchenkritischen Anmerkungen sehr gut nachvollziehen kann.

Prof. Dr. theol. Dorothea Wendebourg schreibt schonungslos:

Haben die Kirchen vielleicht deshalb nicht um Gottesdienst und Seelsorge gekämpft, weil sie ihrer eigenen Arznei nicht mehr viel zutrauen? Das wäre freilich ein Defizit, das weit schwerer wöge als mangelnde Relevanz für ein gesellschaftliches System. Es wäre die Irrelevanz in sich selbst.Angst, Glaube, Zivilcourage, S.265

Als Frage formuliert kommt hier dennoch ein starker Vorwurf an die Kirchen(leitungen) zum Vorschein hinsichtlich ihres Kernauftrages, nämlich christlicher Gemeinschaft in Form von Seelsorge und Gottesdienst auch dann eine Gestalt zu verleihen, wenn es die äußeren Umstände erschweren. Er trifft einen wunden Punkt, denn viele Pfarrerinnen und Pfarrer (ich nehme mich hier nicht aus, wenn ich mein eigenes Handeln in der Corona-Zeit selbstkritisch hinterfrage) haben leichtfertig nachgegeben, als keinen Gottesdienste gefeiert werden durften.

In seinem ausführlichen Beitrag „Angst, Glaube, Zivilcourage. Was kennzeichnet die messianische Berufung der Kirchen in Panik und Pandemie?“ beleuchtet Pfarrer Dr. Wichard von Heyden unter anderem das kirchlichen Auftreten in der Öffentlichkeit und konstatiert:

Die Spaltung der Gesellschaft in Freund und Feind hätte die Kirche nie hinnehmen dürfen. Nie hätte sie Angst und Panik als Movens der öffentlichen Kommunikation dulden dürfen. Nie hätte die Kirche den autoritären Anspruch von Politikern und vorgeschickten Wissenschaftlern akzeptieren dürfen, alle Regeln und alles „Normal“ neu zu definieren und dabei Menschen “mit und ohne Corona“ im Stich zu lassen. Die außerordentliche Dramatik ist nicht wegzuwischen: Eine ganze Bevölkerung wurde traumatisiert.Angst, Glaube, Zivilcourage, S.272

Aber er schaut nicht nur zurück und lamentiert über das seiner Meinung nach Versagen der Kirche, sondern hält einen Ausblick und stellt meiner Meinung nach auch eine vollkommen richtige Forderung an Kirchenleitungen:

Wenn wir als Kirche wieder Vertrauensanker werden möchten, müssen wir unser eigenes Versagen aufklären: Es geht dabei auch um Umkehr und die Bitte um Entschuldigung. Wir müssen offen miteinander reden, wieder auf diejenigen zugehen, die wir beispielsweise mit 2G aus der Gemeinschaft von Wort und Sakrament hinausgetrieben haben.Angst, Glaube, Zivilcourage, S.277

Im Blick auf Kirche ist der Ruf nach einer Aufarbeitung der Geschehnisse in der Corona-Zeit auch deswegen wichtig, weil wir viel Vertrauen verspielt haben und dieses nur zurückgewinnen können, wenn wir offen und ehrlich uns dem eigenen Fehlverhalten stellen, Entschuldigungen aussprechen und aus diesem Verhalten lernen. Denn: Fehler macht jeder. Das ist nicht die Frage. Diese ist aber: Lernen wir aus diesen Fehlern und machen es zukünftig besser?

Fazit

„Angst, Glaube, Zivilcourage. Folgerungen aus der Corona-Krise“ ist kein neutrales Buch, das alle Für und Wider abwägt. Es geht in eine deutliche Richtung – und das ist gut so. Denn auf diese Weise trägt das Buch einen wichtigen Anteil an einem Diskurs, der längst überfällig ist – oder wie Alexander Kissler es zu Beginn des Buches formuliert:

Angst macht unfrei, die Wahrheit macht frei. Sie lässt sich an erprobter Stelle finden und anwenden: im rückhaltlos offenen Streit.Angst, Glaube, Zivilcourage, S.25

Genau dieser offene Streit scheint unserer Gesellschaft abhanden gekommen zu sein in Zeiten von Cancel-Culture und Kontaktschuld. Wer nicht einem medialen Mainstream das Wort redet, wird schnell abgetan als Spalter und Schwurbler. Zudem scheint weniger wichtig, was gesagt wird als viel mehr, von wem es gesagt wird. Das ist demokratifeindlich und am Ende auch glaubensfeindlich, weil es in Unfreiheit und Gefangenschaft führt.

Frauke Rostalski bringt es auf den Punkt, wenn sie schreibt:

Wir leben heute in den Gräben der Pandemie. Viele fühlen sich nach wie vor ungerecht behandelt und befürchten, dass es ihnen künftig ähnlich ergehen könnte. Der öffentliche Diskurs ist im Mark erschüttert. Anstatt im Gespräch ins Miteinander zu finden, werden mehr und mehr Mauern gebaut, hinter denen sich bloß noch jene unterhalten, die ohnehin ein und derselben Meinung sind. Dies hat Folgen für andere wichtige Debatten, die in unserer Gesellschaft geführt werden sollten. Die Verschlechterung von Diskursen setzt sich ungehindert fort, selbst da, wo es gar nicht mehr um die Pandemie geht – als hätte die Gesellschaft die gemeinsame Sprache verlernt.Angst, Glaube, Zivilcourage, S.208

In diesem Sinne ist das vorliegende Buch ein wichtiger und wertvoller Beitrag für einen offenen Diskurs, weil er eben gerade Dinge anspricht, die manchen nicht gefallen werden. Aber es bringt nichts, die Dinge „hinterm Berg zu halten“, wenn man doch genau weiß, dass Fehler geschehen sind.

Wer lieber in seiner Echokammer und Bubble bleiben möchte und keine andere Meinung zulassen will, sollte die Finger von diesem Buch lassen, denn es könnte sein Denken verändern. Wer bereit ist für einen offenen Diskurs und wer Interesse daran hat, dass unsere Gesellschaft wieder ein Gemeinwesen wird, in dem man offen und ehrlich seine Meinung sagen darf und dem Gegenüber das Gleiche zugesteht, um dann in einen leidenschaftlichen Diskurs (oder eben „Streit“, wie Kissler es nennt) zu treten, dem empfehle ich dieses Buch sehr.

Dr. Thomas A. Seidel, Dr. Sebastian Kleinschmidt (Hrsg.): Angst, Glaube, Zivilcourage. Folgerungen aus der Corona-Krise

ISBN: 9783417020694

Seiten: 288

Preis: 25,00 Euro

Verlag: R.Brockhaus (www.scm-shop.de/angst-glaube-zivilcourage.html)


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