Dieses Zitat beschreibt “Im Schatten des Krieges” auf einer Metaebene mehr als es “uns Deutschen” recht sein könnte. Christoph Brumme schreibt Tagebuch. Aber nicht irgendein Tagebuch. Er schreibt Tagebuch inmitten des furchtbaren Angriffskrieges Russlands auf die Ukraine im Frühjahr 2022.
Seine Notizen beginnen wenige Wochen vor Kriegsbeginn, der am 24. Februar 2022 eine “Zeitenwende” markierte, wie Bundeskanzler Scholz später sagen sollte und reichen bis zum 1. Mai 2022. Die Notizen enden, der Krieg aber geht weiter.
Ich habe diese Tagebuchnotizen verschlungen, konnte das Buch einfach nicht weglegen. Kein Wunder, dass ich es in wenigen Stunden gelesen hatte. Was ich las, hat mich bewegt, verändert, erschüttert – gleichzeitig aber auch darin bestärkt, voll und ganz solidarisch mit der Ukraine zu bleiben und allen verharmlosenden Tendenzen von Anfang an entgegenzutreten.
Besonders zwei Gedanken bzw. Perspektiven möchte ich hervorheben – auch wenn ich betone: Das gesamten Buch ist mehr als lesenswert und eine absolute Empfehlung!
Da ist zum einen Brummes Blick auf das Land und die Menschen der Ukraine, die er als jemand beschreibt, der schon viele Jahre in diesem Land lebt und 2019 das Buch veröffentlichte “111 Gründe, die Ukraine zu lieben: Eine Liebeserklärung an das schönste Land der Welt“.
Zum anderen charakterisiert Brumme die Politik der deutschen Bundesregierung – und er lässt kein gutes Haar an ihr. ich wünschte, dass jeder, der die “Russland-Ukraine-Politik” der Bundesregierung positiv sieht und unterstützt, dieses Buch liest – er würde am Ende zu einem anderen Schluss kommen. Und ja – sehr geehrter Herr Bundeskanzler Scholz: Bitte lesen Sie dieses Buch! Unbedingt!
Ukraine – besonderes Land, besondere Menschen
Brumme verbindet eine tiefe Freundschaft zur Ukraine. Seit 2016 lebt er mit seiner Familie in der ostukrainischen Stadt Poltawa. Von dort schreibt er, ohne sein Zuhause genauer zu beschreiben – aus Sicherheitsgründen. Er ist kein Unbekannter – schreibt und schrieb er doch schon für die Berliner Zeitung, Der Freitag, und die Neue Zürcher Zeitung.
Seine Tagebuchaufzeichnungen stammen mitten aus dem Krieg, handeln aber nicht nur vom Krieg. Sie beschreiben das Land und die Menschen in ihrer (kulturellen) Schönheit, in ihrer Vielfalt und vor allem: in ihrer Stärke. Nach dem Lesen von “Im Schatten des Krieges” hat sich mein Bild von der Ukraine und vor allem der Mentalität der Menschen dort verfestigt als eine Mentalität der Stärke, Autonomie und Resilienz.
Auch wenn die Konsequenz ein langer, kräftezehrender und leider viele Opfer fordernder Krieg sein wird:
Es ist kein Geheimnis, dass ich persönlich sehr verbunden bin mit dem Schicksal vieler aus der Ukraine geflohenen Menschen, wie ich besonders in den Artikeln “Krieg. Flucht. Schicksale – und meine Gedanken” sowie “Ukraine-Hilfe konkret” beschrieben habe.
Nun aber – wenn auch “aus deutscher Sicht” – die Menschen der Ukraine so persönlich, so nahbar, so direkt vor Augen gemalt zu bekommen durch die unmittelbaren und authentischen Erfahrungen von Christoph Brumme, ist für mich etwas sehr Besonderes. Brumme beschreibt das Leben in Poltawa und wie es auch in anderen Orten der Ukraine ist. Er zeichnet das Bild einer lebensfrohen und tief in ihrer Geschichte verwurzelten Nation. Er schreibt von den Sirenen, die ohrenbetäubend lärmen und dennoch das Volk nicht mürbe machen. Als Leser bekommt man einen kleinen aber feinen Einblick in das kulturelle Leben der Menschen – aber auch in ihre Emotionen.
Viele Tagebucheinträge handeln von (kurzen) Begebenheiten und Gesprächen mit ukrainischen Menschen. Mal haben diese Begegnungen mit dem Krieg zu tun – mal nicht. Das weitet den Horizont ungemein, herrscht hierzulande (und da nehme ich mich gar nicht aus) eine recht verzerrte Sicht auf das, was “Leben inmitten von Krieg” bedeutet.
Natürlich geht es um Leid, um Tod und Tränen – es geht aber auch um Lachen, Geselligkeit und Perspektive im Leben der Ukrainer.
Und es geht um ihre Geschichte, ihre Herkunft, ihre Mentalität, die keinesfalls “pro-russisch” ist, wie man das in deutschen Medien immer und immer wieder lesen kann, ja sogar vom “Brudervolk” ist hierzulande immer wieder die Rede.
Kritischer Blick auf Deutschland
Nicht selten bekomme ich den Eindruck, dass Brumme sich (zurecht, wie ich finde) für Deutschland und seine politische Führung im Blick auf diesen Krieg schämt. Nun ja – er schreibt es auch unverblümt:
Erschreckend ist, dass es sich nicht einmal nur um die gegenwärtige Politik Deutschlands handelt und auch nicht nur um die Politik. Man gewinnt beim Lesen den Eindruck, dass in den vergangenen Jahren (Jahrzehnten) Deutschland als Nation so dermaßen unter den Fittichen Putins gestanden zu haben scheint, dass es nur logisch sein müsste, dass Putin händereibend und amüsiert im Kreml sitzt und wieder einmal denkt: “Danke, Deutschland!”
Und nein – daran ist nicht nur der Gas-Lobbyist und ehemalige deutsche Bundeskanzler Gerhard Schröder schuld. Aber es ist deprimierend, erdrückend und will irgendwie die Hoffnung rauben, dass Deutschland auch nur irgendetwas “gut gemacht” hätte im Blick auf die Beziehung zu Russland und die Nicht-Beziehung zur Ukraine in den letzten Jahren.
Natürlich geht es in erster Linie um die Ukraine in diesem Krieg und nicht um Deutschlands Image. Das ist auch Brumme wichtig, denn die Leidenschaft, mit der er über und für das ukrainische Volk schreibt, ist eindrücklich und beeindruckend zugleich.
Brumme wird aber – und dafür bin ich ihm sehr dankbar – nicht müde, die Konsequenzen zu beschreiben, welche das Verhalten “der Deutschen”, genauer gesagt: der deutschen Bundesregierung in den nächsten Jahren haben wird.
Ein Freund aus Brüssel meinte vor drei Tagen, die mangelnde und streckenweise nur vorgetäuschte Unterstützung der Ukraine in ihrem Überlebenskampf wird »den Deutschen noch heftig auf die Füße fallen; das wird man in Osteuropa nicht vergessen«. Verglichen mit den Gas- und Öl-Milliarden, die man täglich an Russland überweist, seien es nur ein paar Piepen, die die Ukrainer jetzt von den Deutschen bekämen. Ein sofortiger Gas- und Öl-Importstopp hätte nur eine »kleine Konjunkturdelle« zur Folge, meint der Freund, der in Brüssel in wichtigen EU-Gremien arbeitet. Seine Wut über das historische Versagen der deutschen Regierung ist so groß, dass er nun einen dreijährigen Sonderurlaub nimmt, um diese Politik nicht mehr mittragen zu müssen.Im Schatten des Krieges, S.103
Schnörkellos und bildhaft zugleich
So schreibt Christoph Brumme “Im Schatten des Krieges”. Seine Sprache ist dicht und schnörkellos, geradeaus und direkt, seine Message ist klar, seine Worte erzeugen Bilder. Sei es die Katze Lolita oder das Innenleben ukrainischer Städte, die Vorstellung seiner “Schreibwerkstatt” oder die Mentalität der Ukrainer: Brummes Tagebucheinträge malen Bilder vor meinem inneren Auge, deren Übereinstimmung mit der Realität ich nicht überprüfen kann, aber sie lassen das Geschehen in der Ukraine lebendig und nahbar, aber niemals peinlich oder voyeuristisch werden. Überhaupt schreibt Brumme nicht reißerisch – das hat er nicht nötig. Seine Worte treffen, seine ausgewählten Begegnungen und Erfahrungen reichen nicht nur aus, sondern sind ein großer Schatz, wenn es um die Vorstellungskraft dessen geht, was sich in der Ukraine abspielt – und zwar nicht nur auf einer journalistisch-medialen Ebene. Denn davon gibt es durch News-Portale und Nachrichtensendungen schon ausreichend Stoff.
Brumme schreibt viel persönlicher, viel “echter”, viel lebensnaher und vor allem gesellschaftsrelevanter. Seine Tagebucheinträge sind das fehlende Puzzleteil in der all zu oft (und meistens ja auch gerechtfertigten) sachlich-distanzierten Berichterstattung deutscher Medien. Brumme schreibt nicht als deutscher Nachrichtenkorrrespondent, sondern als ein Familienmensch, der das Leid und Leben der ukrainischen Bevölkerung aus der Mitte heraus kennt.
Ich empfehle “Im Schatten des Krieges” jedem, der sich für mehr interessiert als für das, was in den Nachrichten kommt – nämlich für die Menschen, die Schicksale, die Kultur und Geschichte der Ukraine. Brumme liefert Informationen und Meinungen, die man sonst selten findet – sind die meisten Deutschen doch recht unwissend über das was, die Ukraine wirklich ist und was sie ausmacht.