Die letzten zwei Monate haben diese Welt verändert. Auch mich. Gedanken – unsortiert, aber reflektiert. Sortiert, aber nicht priorisiert. Pointiert, aber nicht rechthaberisch. Bei allem weiß ich: Das ist meine subjektive Sicht. Ich kann mich irren. Ich bin fehlbar. Der andere kann Recht haben, ich falsch liegen. Das ist ein Blogbeitrag, keine wissenschaftliche Abhandlung.
Menschen sind mir ans Herz gewachsen
Und doch das Wichtigste vorab: Ich habe Mitleid, ich habe geweint, ich fühl(t)e mich wütend, ohnmächtig, klein. Ich habe Familien kennengelernt, die aus der Ukraine fliehen mussten. Vom Baby bis zur betagten Frau. Eltern, Kinder, Großeltern, Enkel. Sie haben mir ihre Geschichte erzählt, Bilder und Videos von ihrer Heimat gezeigt, von den ersten Nächten im Keller und Bunker. Alles haben sie verloren, ihr Leben hat sich innerhalb weniger Tage komplett verändert. Ihre Träume, ihre Hoffnungen, ihre Zukunftspläne – von jetzt auf nachher anders, verloren, zerstört.
In den letzten sieben Wochen haben wir als Familie und mit ein paar lieben Menschen, die uns unterstützen, im Gemeindehaus “auf der anderen Seite unseres Gartens” Familien aufgenommen, die vom Krieg fliehen mussten. Ich habe nach einiger Zeit zu meiner Frau gesagt: “Endlich weiß ich, wie sich das anfühlt, wenn man etwas Sinnvolles macht.”
Zu den Menschen, die aus den Kriegsgebieten fliehen mussten und dadurch hier zu uns ins Wutachtal kamen, besteht eine ganz besondere Verbindung. Sie sind mir ans Herz gewachsen. Wirklich.
Apropos “meine Frau”: Ihre Hingabe, ihre Hilfsbereitschaft, ihr großes Herz und ihre vielen, vielen Extrameilen, die sie gegangen ist, sind einfach der Wahnsinn!
Gott bleibt gut
Wenn ich das auch angesichts den Krieges nicht mehr glauben könnte, würde ich verzweifeln. Ich habe auf so viele Schreckensmeldungen und Kriegsverbrechen, auf das barbarische Töten und die Sinnlosigkeit des Krieges einfach keine Antwort. Eines weiß ich aber: Würde ich meinen Glauben über Bord werfen oder wenigstens mein Gottesbild von einem liebenden Vater, würde ich restlos verzweifeln. So bleibt mir nichts anderes, als immer und immer wieder zu beten und zu schreien: “Herr, erbarme dich!”
Gottes Kraft ist in den Schwachen mächtig
Dieser bekannte Vers aus der Bibel (2. Korinther 12,9) wurde und muss weiterhin zur Wahrheit im Leben von mir und meiner Familie werden, denn ich merke: Helfen kostet Kraft. Die letzten Wochen waren und sind herausfordernd, turbulent, alles andere als “planbar”, viel Unruhe, wenig Ruhe. Es kostet Kraft, sich für andere einzusetzen. Wir tun es von Herzen voller Liebe und Hingabe, weil es die Menschen uns wert sind. Gleichzeitig absorbiert dieser Einsatz Kräfte, denn es mangelt nicht nur an Ruhe, sondern auch emotional bewegen uns diese Schicksale. Gleichzeitig kommt das alles natürlich zu unseren Berufen “on top”.
Es gibt keinen “gerechten Krieg”
Natürlich gibt es seit Jahren auf der ganzen Welt Krieg. Allerdings sind die Kriege immer “weit weg” gewesen – gefühlt. Jetzt ist der Krieg viel näher, als man zu denken gewagt hat. Wenn ich die zerstörten Städte sehe, die unzähligen Opfer wahrnehme und “was das mit der Welt macht”, wird mir wieder deutlich: Es gibt keinen gerechten Krieg. Natürlich bleibt es legitim, dass ein überfallenes Land sich verteidigt und dieses Land unterstützt werden muss von denen, die für eine freie Welt einstehen. Gleichzeitig kann aber Waffengewalt niemals die erste Lösung sein, aber vielleicht die letzte, um noch größeres Leid abzuwehren.
“Darf ich noch…”
…für etwas anderes spenden? Freude im Alltag verspüren? In Urlaube gehen? Feiern?
Immer wieder begegnen mir solche Fragen oder Unsicherheiten im Alltag, im Gespräch mit anderen Menschen. Meine Antwort ist klar: Ja! Unbedingt! Der Krieg in der Ukraine ist schrecklich – dennoch darf ich mich an dem Schönen freuen, das mir begegnet. Dennoch darfst du in den Urlaub gehen, deinen Geburtstag feiern. Und gleichzeitig dürfen Kirchen, NGOs und Vereine Spenden sammeln für ihre Zwecke. Es besteht die Gefahr, dass nun alles auf die Ukraine und den Krieg fixiert ist. Nein, das muss es nicht. Das wäre nicht gut. Wir müssen unser Leben hier weiterleben und für die Dinge einstehen, die uns wichtig sind.
Gleichzeitig geschieht aber auch eine Neuordnung der Prioritäten. Dinge verlieren an Wert, andere Dinge gewinnen an Wert im Angesicht des Krieges. Das ist nicht nur legitim, sondern wünschenswert – und gleichzeitig bedauernswert, dass der Mensch wohl so gestrickt ist, dass erst “etwas passieren muss”, ehe man sich über das wirklich Wichtige Gedanken macht. Ich schließe mich hier nicht aus.
Enttäuschungen
Und das führt mich leider auch zu zwei Enttäuschungen, die ich in den letzten Wochen und zugespitzt in den letzten Tagen erlebe – und betone an dieser Stelle ausdrücklich nochmals die Subjektivität und dass ich von meiner Wahrnehmung schreibe und keinen Anspruch geltend mache, dass dies allgemein so wäre.
Die eine Enttäuschung ist die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD). Der so genannte “Friedensbeauftragte” der EKD, Bischof Friedrich Kramer. In einem Artikel der Süddeutschen Zeitung steht folgendes:
Für mich ist das untragbar und ungeheuerlich zynisch im Blick auf die Opfer des Krieges.
Meine zweite Enttäuschung “ploppt” immer wieder dann auf, wenn ich merke: Sachspenden sind Menschen sehr wohl im Stande zu bringen – wenn es aber um persönlichen Einsatz geht, sind es nur wenige, die “mit anpacken”, die sich einbringen, die investieren, die einen Unterschied machen.
Im Deutschlandfunk hörte ich diesbezüglich ein erhellendes Interview mit einer Vertreterin einer NGO (nein, leider weiß ich nicht mehr, wer das war und kann schon gar nicht die Quelle verlinken, tut mir leid). Darin kam zur Sprache, dass es ganz “normal sei”, dass in Katastrophensituationen zu Beginn die Spendenbereitschaft enorm groß ist und nach und nach weniger wird. Das nehme ich auch wahr – wobei ich (passt zwar nicht zur Überschrift “Enttäuschung”, aber egal) nach wie vor dankbar und begeistert darüber bin, was Menschen spenden und gespendet haben! Das ist großartig. Die Hilfsbereitschaft ist so enorm!
Und doch. Wenn’s dann darum geht, die “harte Arbeit” zu leisten sieht es dünn aus. Natürlich ist mir das auch klar: Etwas spenden ist viel einfacher, als Zeit zu investieren: in die Unterkunft gehen, Fragen klären, Bürokratie erledigen, konkrete Dinge besorgen, die Schulanmeldung regeln, Computerprobleme lösen (und erst mal herausfinden, wo man die Systemsprache “Russisch” wieder auf “Deutsch” umstellen kann, wenn alles auf Russisch geschrieben ist) oder einfach mal ein offenes Ohr haben.
Vielleicht liegt es auch an Berührungsängsten und Sprachbarrieren – das mag sein.
Trotz allem: Es wird gelacht!
Und das ist so schön! Das Leid und die Not – unsagbar groß! Und doch wird auch das Schöne gesehen und was haben wir schon gelacht in unserer “Notunterkunft” im Gemeindehaus. Meistens dann, wenn wir versuchen, uns mit Händen und Füßen zu verständigen oder die Übersetzungs-App auf dem Smartphone Dinge zu Tage gebracht hat, die uns Tränen in die Augen trieben – vor Lachen!
Oder wie würdest du reagieren, wenn du eingeladen wirst zum Essen, und sich dank misslungener Übersetzung herausstellt es gibt “Erde” und “Katzen”? Was haben wir gelacht! Und das ist so schön. So wichtig. So gesund.
Wer nicht fragt, der nicht gewinnt!
Ich weiß. Das Ding heißt anders: “Wer nicht wagt, der nicht gewinnt!” Ich habe in den letzten Wochen aber festgestellt: Wer nicht fragt, gewinnt nicht! Was haben sich Türen geöffnet und Wege bereitet, nur weil ich gefragt habe. Unglaublich! Ich gebe zu: das war ein Lernprozess für mich. Ich bin nicht der Typ, der die Leute großartig fragt, weil ich nicht “unhöflich” erscheinen oder die Menschen “belästigen” will. Nun – hier habe ich dazugelernt. Ich habe gefragt, wer Chauffeuer-Dienste übernehmen kann, unzählige Male nach konkreten Spenden gefragt oder nach Mitarbeit bspw. im Übersetzungsdienst unseres Gottesdienstes. Und so oft (wirklich!) habe ich erlebt: Wer nicht fragt, der nicht gewinnt – wer fragt, gewinnt!
Noch ein langer Weg
Die vielen, vielen Menschen, die nun bei uns in Deutschland bleiben wollen, müssen in unseren Alltag, in unsere Gesellschaft integriert werden. Dabei nehme ich so unglaublich viel Bereitschaft und Dankbarkeit seitens der aus der Ukraine geflohenen Menschen wahr, dass ich das merkelsche “Wir schaffen das!” hier unterstreichen würde. Gleichzeitig wird dieser Weg nicht einfach und nicht kurz. Alleine wenn ich an die deutsche Bürokratie denke und das Prozedere, bis die aus der Ukraine Geflüchteten angemeldet waren und ihre ersten Leistungen bekommen haben – da habe ich mal wieder des öfteren den Kopf über die “german Verwaltung” geschüttelt und einmal mehr das gemerkt, was mich zum nächsten Punkt bringt.
Was habe ich doch für ein falsches Bild gehabt!
Und zwar von der Ukraine bzw. den Menschen, die dort leben. Ich gebe es ganz offen und ehrlich zu: Für mich war dieses Land bis vor zwei Monaten nicht wirklich “präsent” in meinem Alltag. Ich erinnere mich nur immer wieder an das erste Spiel, das ich damals bei der Fußballweltmeisterschaft 2006 in Deutschland vollständig im TV sah (weil ich bei den anderen Spielen noch auf mein erstes Examen lernen musste) – Schweiz gegen Ukraine. 0:0 – Verlängerung – Elfmeterschießen. Und selbst dort fielen kaum Tore.
Zurück zum Thema. Die Ukraine gehörte für mich zu den “Ost-Staaten”, die ich irgendwie unter dem Kommunismus gebeutelt sah und wenig von ihrer Tradition, Kultur und ihren Werten wahrnahm. Mein Bild hat sich komplett verändert! Auch und gerade durch die Menschen, die ich in den letzten Wochen kennenlernen durfte.
Ich sah Bilder und Videos von ihrem Land vor dem Krieg, großartige Shopping Malls, wunderschöne Häuser und Wohnungen und ein Lifestyle, der sich von unserem gar nicht groß unterscheidet. Doch. In einem schon: die Digitalisierung ist in der Ukraine wesentlich weiter vorangeschritten als bei uns in Deutschland.
Marathon statt Sprint
So würde ich die Hilfe und das Gebet für die Ukraine beschreiben wollen. Wir können nicht davon ausgehen, dass das alles “bald beendet” ist. Was denn auch? Der Krieg? Die Zerstörung? Die Flucht? Die Schicksale? Nein – das wird dauern. Ein langer Atem ist gefragt. Ich bin bereit, diesen Weg zu gehen – das sage ich jetzt. Was ist in einem halben Jahr, in einem Jahr, in drei Jahren? “Weiß ich den Weg auch nicht, du weißt ihn wohl” textete Hedwig von Redern im gleichnamigen Kirchenlied. Darauf vertraue ich. Gott weiß den Weg – ich nicht. Ich muss ihn nicht wissen. Vertrauen reicht.
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