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Wertschätzung

Wenn ich glaube, dass jeder Mensch einzigartig und als Ebenbild Gottes geschaffen wurde, dann ist Wertschätzung an sich nichts Besonderes, sondern ein Ausdruck dieser Überzeugung. Dennoch scheint es gerade innerhalb christlicher Gemeinden sehr schwierig zu sein, echte Wertschätzung zu leben. Wieso ist das so? Und warum lohnt es sich, Wertschätzung zu leben? Darum soll es in diesem Beitrag gehen.

Was ist eigentlich Wertschätzung?

Ich werde jetzt nicht Wikipedia oder Google bemühen, sondern Dir schlicht und einfach meine Sicht von Wertschätzung mitteilen. Wertschätzung ist kein Projekt, sondern eine Haltung. Sie ist kein Programm, sondern ein Lebensstil. Sie ist erlernbar – und leider auch verlernbar. Wertschätzung bedeutet, dem anderen Menschen so gegenüberzutreten und so mit ihm zu agieren, dass sein Wert als Ebenbild Gottes “geschätzt” wird, das heißt:

Ich erkenne in meinem Gegenüber einen wahren Schatz, weil er einen Wert hat, den ihm sein Schöpfer zugeschrieben hat und es nicht an mir liegt, diesen Wert durch eine negative Interaktion zu minimieren.

Wohlgemerkt: Den Wert zu minimieren – nicht seine Handlungen oder Äußerungen. Ich kann jemandem wertschätzend entgegentreten, dessen Handlungen und Überzeugungen ich nicht teile. Genauso wenig bedeutet Wertschätzung, zu allem “Ja und Amen” sagen, was der andere äußert oder vollbringt. Das bedeutet natürlich und vor allem auch, dass ich denjenigen Menschen Wertschätzung entgegenbringe, die mir nicht liegen. Soll ich also auch meinem Fein Wertschätzung entgegenbringen? Natürlich! Soll ich sogar einem Verbrecher Wertschätzung entgegenbringen? Auf jeden Fall! Soll ich meinen Freunden Wertschätzung entgegenbringen? Logisch! Und ich glaube, hier müssen wir genauer einsteigen, wie sich Wertschätzung äußert.

Den anderen wahrnehmen

Das klingt so simpel – aber ist es überhaupt nicht. Ich kann einem Menschen im Gespräch äußerlich zuhören, aber innerlich auf Durchzug schalten. Ich kann mich mit Menschen unterhalten, mit meinen Augen aber die Umgebung abscannen, ob sich nicht doch noch eine bessere Option für den Moment findet. Wahrnehmung beginnt dort, wo ich mich ganz auf den anderen einlasse, mit dem ich für diesen Moment das Gespräch habe, der mir im Moment begegnet. Dann zählt nichts anderes, sondern diese Person. Ich gebe zu: Das ist alles andere als einfach, denn es beginnt schon im Kopf, in dem sich alle möglichen anderen Gedanken, Wichtigkeiten und Nebensächlichkeiten auftürmen und uns vom Gegenüber ablenken wollen.
Wahrnehmung heißt, ich nehme den Menschen ganzheitlich wahr: seine Worte, seine Mimik, seine Gestik – kurz: seine Körpersprache.
Ich nehme ihn aber auch innerlich wahr: Was treibt ihn um? Wo hat er gerade Herausforderungen? Was glückt ihm gerade so richtig? Wo drückt ihn der Schuh? Wie steht es um seine Familie, seine Zeit mit Gott und wie lebt er seine Berufung? Bevor du dich jetzt überfordert fühlst: Das geht natürlich nicht bei allen Begegnungen in dieser Tiefe, denn manche Menschen kennen wir nur “flüchtig”. Dann gilt es vor allem, im Moment ganz achtsam und präsent zu sein.
Wertschätzung beginnt dort, wo ich ich mich auf mein Gegenüber einlasse und ihm signalisiere und zeige: Ich bin da. Schieß los! Was ist dein Anliegen?
Oder anders ausgedrückt und einfacher: Mein Gegenüber ist mir einfach wichtig!

Den Schatz heben

Wenn jeder einzelne Mensch als Ebenbild, als Gegenüber Gottes geschaffen ist – dann steckt in jedem einzelnen Menschen jede Menge Potenzial und Power. Wertschätzung heißt für mich dann konkret: Dem anderen helfen, sein Potenzial zu entfalten. Dazu ein ganz einfaches Beispiel. Meine Frau Damaris (www.instagram.com/damaris_brunner) hat vor über einem Jahr in unserer Kirchengemeinde die SHINE WOMAN-Arbeit begonnen (klick dich rein unter www.wutachblick.de/shine). Dabei hat sie sich auf die Suche begeben nach weiteren Frauen in unserer Gemeinde, mit denen sie diese Arbeit beginnen und nachhaltig gestalten kann. Leider bin ich auf Grund meines Geschlechts disqualifiziert, an den Angeboten dieser SHINE WOMAN-Arbeit teilzunehmen, aber ich ziehe meinen Hut und habe größten Respekt vor meiner Frau, die eine wahre Wertschätzerin und Potenzialentfalterin ist. Wie sie in den einzelnen Meetings, aber auch in Gesprächen, Telefonaten, Emails und anderen Wegen der Kommunikation dabei ist, andere in ihre Bestimmung, in ihre Berufung zu führen, indem sie ihnen hilft, ihre Gaben und ihr Potenzial nicht nur zu erkennen, sondern auch zu entfalten, ist einfach einzigartig und wunderbar. Meistens braucht es gar nicht viel Anstrengung, denn das Potenzial im anderen ist ja schon längst da. Was es braucht ist
  • Mut, neue Wege zu gehen und dem anderen die Entfaltung zu erlauben.
  • Freude daran, den anderen in seiner Bestimmung und Berufung wachsen zu sehen.
  • Leidenschaft, nicht aufzugeben, sondern dranzubleiben.
  • Visionen für etwas Größeres, das sein wird als das, was schon ist.
Ich selber versuche in den Teams, mit denen ich zusammenarbeite, immer wieder Potenziale zur Entfaltung kommen zu lassen. Ich will anderen etwas zutrauen – wo sie selbst sich vielleicht noch gar nicht so viel zutrauen. Was soll schon schief gehen? Es kann im schlechtesten Fall der Zustand erreicht werden, an dem wir jetzt schon sind. Im besten Fall entfaltet der oder die andere aber ein Teil seines Potenzials – und das bedeutet: Wir sind einen ganzen Schritt weiter.

In Liebe korrigieren

Auch das gehört zur Wertschätzung, obwohl es auf den ersten Blick nicht so aussieht. Es hat aber einen ganz einfachen Grund:
Ich möchte, dass mein Gegenüber eine bessere Ausgabe seiner selbst wird.
Dann korrigiere ich auch – in Liebe! Im Prinzip ist das ja selbstverständlich, nur in der Praxis nicht immer einfach. Ich will es aber einmal mehr mit der Erziehung von Kindern vergleichen. Wenn ich den Eindruck habe, dass die Ausdrucksweise meiner Kinder oder das Verwenden mancher Wörter nicht unbedingt förderlich ist, dann korrigiere ich sie. Dann sage ich ihnen, dass das Wort XY nicht das Beste ist und aus welchem Grund. Ich korrigiere – nicht um Recht zu behalten, sondern um den anderen besser zu machen. Ob und wie er meinen Rat und Korrektur annimmt, liegt nicht in meiner Hand und spielt auch nicht die entscheidende Rolle. Die spielt meine Haltung – ob es in Liebe geschieht oder ob ich dem anderen eins “überbraten” will mit meiner Kritik. “Liebe” heißt in diesem Fall: Ich habe eine schier unbändige Sehnsucht danach, dass es meinem Gegenüber in diesem einen Bereich, den ich gerade wahrnehme, nach unserem Gespräch bzw. nach unserer Begegnung spürbar und messbar besser geht – und im besten Fall ist das nachhaltig.

Hindernisse auf dem Weg zur Wertschätzung

Das alles klingt so schön. So gut. So erstrebenswert. Ohne sie nach Priorität oder Kausalität geordnet zu haben, gibt es aber auch verschiedene Hindernisse, die auf dem Weg zu einer wertschätzenden Haltung überwunden werden müssen oder die zumindest im Weg stehen, wobei das Überwinden vielleicht gar nicht so einfach ist

Die Frage nach meiner Identität

Geistlich betrachtet ist das irgendwie der “Joker” in so vielen Auseinandersetzungen und Fragestellungen, die mir begegnen. Die Frage nach meiner eigenen Identität (Wer bin ich?) ist in so vielen Lebensbereichen entscheidend, dass man schon fast von einer grundlegenden (den Grund legenden) Fragestellung sprechen muss. Aber sie trifft in besonderer Weise auch im Blick auf Wertschätzung zu. Es ist nicht sonderlich schwierig zu verstehen, dass Menschen, die sich selbst nicht annehmen können bzw. nicht wissen, wer sie eigentlich sind, auch anderen Menschen nicht wertschätzend entgegentreten können. Oder aber sie versuchen, über ihr eigenes Identitätsproblem hinwegzugehen und sich umso mehr in andere Menschen zu investieren, was aber eher einem zwanghaften Lebensstil als einer authentischen Form der Wertschätzung zuzuschreiben ist. Wenn ich aber weiß, wer ich bin, kann ich anderen so wertschätzend entgegen treten, dass ich keine Angst haben muss, selbst zu kurz zu kommen.
Ich bin ein geliebtes Kind meines himmlischen Vaters.
Wenn diese Aussage deine Identität beschreibt, dann hast du nichts zu befürchten, denn dein himmlischer Vater wird sich um alles sorgen, was du brauchst. Du bist nicht abhängig von Menschen und Situationen, sondern einzig und allein von deinem himmlischen Vater, der weiß, was du brauchst. Also kannst du anderen Menschen wertschätzend entgegenzutreten ohne die Befürchtung zu haben, dadurch selbst zu kurz zu kommen.

Blinder Gehorsam gegenüber Regeln

Lass mich eines vorab sagen: Regeln sind gut und wichtig! Sie ordnen unser Zusammenleben in der Gesellschaft, im Klassenzimmer, im Straßenverkehr – und in der Gemeinde. Insofern sind Regeln nicht per se schlecht. Gefährlich wird es nur dann, wenn wir Regeln nicht mehr beginnen zu hinterfragen, sondern unkritisch übernehmen. Was folgt ist ein schleichender aber umso gefährlicherer Weg des Sterbens und Abstumpfens. Meistens erkennbar an einem allgegenwärtigen Staunen und Schweigen bei der Frage: “Warum machen wir das einfach so, wie wir es machen?” “Weil…äh…ja, weil….keine Ahnung.” Es ist wie in der Kindererziehung. Wenn ich meinen Kindern nicht plausibel erklären kann, weshalb es bestimmte Regeln gibt und wenn sie nicht verstehen, weshalb es gut ist, sich an diese Regeln zu halten, werden sie sie blind befolgen – und irgendwann keine Ahnung darüber haben, warum sie tun, was sie tun. Und das möchte ich unter allen Umständen vermeiden. Ebenso ist es absolut zu vermeiden, dass Menschen in der Gemeinde etwas tun (oder nicht tun) – und das “Warum” nicht erklären oder beantworten können. Logischerweise fällt es ihnen dann umso schwerer, Menschen oder Situationen wertzuschätzen, die mit diesem Vakuum an Sinn zu tun haben.

Gesetzlichkeit

Ich würde nicht sagen, dass diese automatisch und alleine eine Folge von blindem Gehorsam gegenüber Regeln ist, aber es ist definitiv eine Möglichkeit – und wohl die wahrscheinlichste. Gesetzlichkeit ist sozusagen der blinde Gehorsam gegenüber Regeln, den ich auch von allen anderen fordere und nicht nur selber leiste. Aber das reicht noch nicht. Hinzu kommt das, was ich im folgenden Punkt noch beschreiben werde: ein Richten und Urteilen über die Menschen, die diesen blinden Gehorsam nicht bringen.
Gesetzlichkeit ist der Feind aller Freiheit im Glauben und führt immer und ausnahmslos in die Enge und setzt Menschen unter Druck.
Es ist hoffentlich nicht weiter nötig, aber ich betone es trotzdem: Gesetzlichkeit und biblischer Glaube haben nichts miteinander zu tun. In der Bibel heißt es: “Wo der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit!” (2. Korinther 3,17) Wertschätzung setzt Menschen frei, sie bestätigt das Potenzial von Menschen und möchte Menschen aufblühen lassen. All das will Gesetzlichkeit nicht, ja kämpft sogar dagegen an. Nicht verwunderlich, dass gesetzliche Menschen wenig mit Wertschätzung anfangen können und schon gar nicht wertschätzende auftreten und anderen Menschen gegenüber treten können.

Richten statt umarmen

Schnell sind wir dabei, andere Menschen zu richten anstatt sie zu umarmen. Natürlich immer nur unter dem Vorwand: “Man kann doch nicht alles so stehen lassen und gutheißen, was der andere macht. Das weiß doch jeder, dass das nicht geht.” Mag sein – aber kann man wirklich nicht? Ist ein Umarmen des anderen wirklich eine Bejahung dessen, was er tut oder nicht einfach viel mehr ein Ausdruck göttlicher Gnade? Vielleicht sollte ich hinzufügen, dass ich “umarmen” durchaus im übertragenen Sinn meine – man könnte auch sagen “annehmen” oder “wertschätzend gegenübertreten”. Es ist leider landauf landab ein stark ausgeprägtes aber dennoch falsches Vorurteil, dass wenn ich einem Menschen mit Wertschätzung begegne oder ihn einfach so annehme, wie er ist, automatisch alles, was er sagt und tut unterstreiche und ihn darin bestärke. Das ist aber vollkommener Quatsch. Jesus selbst hat es vorgelebt. Nur ein Beispiel, es wird in der Bibel im Lukas-Evangelium im 19. Kapitel überliefert. Jesus begegnet einem Zolleinnehmer namens Zachäus äußerst wertschätzend und umarmt ihn, indem er bei ihm zuhause Gast sein und zu Abend essen möchte – was in der damaligen Kultur der Ritterschlag schlechthin war. Unterstützt Jesus dadurch das betrügerische Handeln dieses Zöllners? Überhaupt nicht. Im Gegenteil, denn am Ende der Begegnung wird uns überliefert, dass Zachäus sein Leben komplett änderte. Warum? Weil Jesus ihn annahm, ohne sein Verhalten gutzuheißen. Er hätte ihn auch richten und verurteilen können – und Zachäus damit jede Chance auf Veränderung nehmen können.

Warum sich Wertschätzung immer auszahlt

Je nach Situation und je nach Kontext, je nach Bekanntheitsgrad und je nach Möglichkeit der Vertiefung sieht der Benefit von Wertschätzung immer anders aus, aber eines ist sicher: Wertschätzung zahlt sich immer aus.
  • Mein Gegenüber wächst mehr und mehr zu der Ausgabe seiner selbst, die von Gott gedacht war.
  • Wertschätzung bereitet den Boden für Produktivität und Teamarbeit.
  • Ich ermögliche meinem Gegenüber, seine Gaben, Talente, Fähigkeiten zu entdecken und auszuleben.
  • Geschieht Wertschätzung im Gemeindekontext, prägt und verändert sie die Gemeindekultur immer – und zwar ausschließlich zum Guten.
  • Ich selbst werde 100%ig Freude daran haben, dem anderen im Wachstum seines Glaubens, seiner Identität, seines Lebens zusehen zu können und Teil davon zu sein.
  • Wertschätzung zeigt mir: Es gibt immer einen Mittelpunkt und eine Hauptsache – und ich bin es nicht.
  • Im Sinne der alten Pfadfinderweisheit “Jeden Tag eine gute Tat” kann ich mich darüber freuen, etwas Gutes getan zu haben – in einer Welt, in der es so viele “bad news” gibt.
Der für mich vielleicht größte Gewinn ist, dass ich – und das schreibe ich nun als Leiter und Pfarrer einer Gemeinde – “im göttlichen Flow” bin. In der Bibel wird die Gemeinde Gottes einmal mit einem Körper und seinen unterschiedlichen Körperteilen verglichen (1. Korinther 12). Jedes Körperteil ist wichtig, keins ist wie das andere und alle freuen und leiden mit dem anderen mit. Wertschätzung bedeutet demnach:
Inspiriert vom Heiligen Geist dem anderen helfen, sich als Teil dieses Leibes Jesu wahrzunehmen (Identität), seinen Platz innerhalb der Gemeinde Jesu einzunehmen (Gaben und Fähigkeiten entdecken) und seine Funktion auszuüben (Potenzial entfalten).
Wenn du noch tiefer einsteigen und ganz praktische Tipps und Wertschätzungsgeschichten lesen möchtest, empfehle ich dir das Buch “Wunderwaffe Wertschätzung” von Tim Niedernolte.

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