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Die Kunst des Leitens IX: Verlorenes Schaf oder trotziger Bock?

“Den Bock zum Gärtner machen” sagen wir, wenn wir jemandem eine Aufgabe übertragen, für die er vollkommen ungeeignet ist. Gib mir die Aufgabe, ein geeignetes Tanzkostüm für meine Tochter herauszusuchen – dann hast du den Bock zum Gärtner gemacht.

Zwar nicht zum Gärtner aber zum Schaf machen wir den ein oder anderen Bock, wenn wir uns anschauen, was es heißt, Gemeinde zu leiten. Auf diesen Gedanken bin ich durch eine Predigt im Abschlussgottesdienst der Pfarrkonferenz unseres Kirchenbezirks gekommen, denn der Prediger nahm genau diesen Gedanken auf.

Das verlorene Schaf

Der Kern des Ganzen liegt in Lukas 15 versteckt. Jesus erzählt folgendes Gleichnis:

“Stellt euch vor, einer von euch hat hundert Schafe und eines davon verläuft sich. Lässt er dann nicht die neunundneunzig allein in der Steppe weitergrasen und sucht das verlorene so lange, bis er es findet? Und wenn er es gefunden hat, dann freut er sich, nimmt es auf die Schultern und trägt es nach Hause. Dort ruft er seine Freunde und Nachbarn zusammen und sagt zu ihnen: ‘Freut euch mit mir, ich habe mein verlorenes Schaf wiedergefunden!’ Ich sage euch: Genauso ist bei Gott im Himmel mehr Freude über einen Sünder, der ein neues Leben anfängt, als über neunundneunzig andere, die das nicht nötig haben.” Die Bibel, Lukas 15, 4-7

Ich will das Hauptaugenmerk weder auf die 99 noch auf das Eine legen. Es geht vielmehr darum: Was hat sich hier verlaufen? Ein Schaf. OK, soweit nichts Umwerfendes, magst du denken, aber es ist der Knackpunkt schlechthin. Von diesem Schaf an sich wird nicht viel berichtet. Es verläuft sich, der Hirte findet es und trägt es schließlich auf den Schultern nach Hause.

Würde so etwas von einem Bock hier genauso stehen? Ich glaube nicht. Ein Bock hätte sich nicht verlaufen, sondern verrannt; er hätte sich nicht unbedingt finden lassen wollen und schon gar nicht auf den Schultern nach Hause tragen lassen wollen. Das wäre dann wohl doch schon unter seiner Würde gewesen und er hätte sich gedacht: “Was denken wohl die anderen von mir, wenn sie mich so sehen?”

Das Schaf hingegen wird sich gefreut haben und es werden ihm zentnerweise die Lasten vom Herzen gefallen sein, die Angst, die Furcht, die Ungewissheit – endlich ist der Hirte da und ich komme nach Hause.

Wem laufen wir als Leiter hinterher?

Das ist die Kernfrage und ich will mal ganz provokant fragen: Könnte es sein, dass wir viel zu oft mehr den “trotzigen Böcken” als den “verlorenen Schafen” hinterher rennen? Ich meine das natürlich nur im übertragenen Sinne.

Aber wenn Du Pastorin oder Pastor bist, dann stell dir doch einmal ehrlich die Fragen:

Ich wähle bewusst den Begiff “bei Laune halten” und nicht den Begriff “Jüngerschaft” – das sind nämlich zwei komplett verschiedene Paar Stiefel. Jüngerschaft darf niemals gegen Evangelisation ausgespielt werden. Beides hat seine absolute Berechtigung und Notwendigkeit in der Gemeinde Jesu. Da gibt es kein “Entweder – Oder” sondern nur ein “UND!”. Jüngerschaft und “Bei Laune halten” sind sozusagen genau das Unterscheidungsmerkmal dessen, was wir als Gemeinde tun, wenn wir uns fragen, ob wir Böcken oder Schafen nachgehen – das wirst du später merken, wenn es um die Unterscheidung von Schaf und Bock geht.

“Bei Laune halten” aber ist kein Qualitätsmerkmal von Gemeinde – wir tun es aber sehr oft. Und das ist fatal! Äußerst fatal, denn wir tappen dann in eine Spirale, die manchmal nur noch schwer aufzuhalten ist. Wir versuchen jemanden, bei Laune zu halten in der Hoffnung, dass es uns gelingt – wird es vielleicht auch für den Moment, indem wir eine Entscheidung zurücknehmen oder indem wir manches “langsamer” angehen oder indem wir uns zum x-ten Mal Zeit für ein Gespräch nehmen.

Es wird aber nicht all zu viel Zeit ins Land gehen, und das “bei-Laune-Halten” funktioniert nicht mehr so gut, der Bock blökt wieder und ist unzufrieden – das ganze “bei-Laune-Halten”-Spielchen beginnt von vorne. Kräftezehrend. Zeitfressend. Ergebnislos.

Scheinbar laufen wir den Böcken hinterher, weil Jesus das ja auch getan hat. Hat er aber nicht. Er ist den verlorenen Schafen nachgegangen – nicht den sturen Böcken.

Nicht den Bock zum Schaf machen

Natürlich würde ich mich freuen, wenn möglichst alle das “gut finden”, was wir als Gemeinde tun und wofür ich als Leiter stehe. Ist doch logisch. Gleichzeitig ist das sowohl Utopie als auch unbiblisch anzunehmen, dass dieses Anliegen der Realität entspricht. Es gab, gibt und wird immer Menschen geben, die kein Schaf sein wollen sondern Bock. Das ist ihr Recht und dazu haben sie sich selbst entschieden – niemand anderes hat ihnen diese Entscheidung abgenommen. Als Leiter sollte ich sie dann auch als solche wahrnehmen und nicht so tun, als seien es Schafe. Das ist deswegen so wichtig, weil es den weiteren Weg der Gemeinde bzw. der Leitungsaufgaben unmittelbar bestimmen wird.

Warum? Versuchst du, aus einem Bock ein Schaf zu machen, dann versuchst du nichts Geringeres als die Quadratur des Kreises. Aus guter Absicht heraus aber mit falschen Annahmen.

Die gute Absicht besteht darin, dass du niemandem “auf den Schlips treten” willst. Gut so. Das will ich nämlich auch nicht. Die falsche Annahme besteht darin, es allen recht machen und die “ganze Gemeinde mitnehmen” zu können. Letzteres will ich dir nicht einmal als “gute Absicht” unterstellen.

Wenn du die Absicht hast, es allen recht zu machen, solltest du Eisverkäufer werden aber nicht Pastor oder in der Gemeindeleitung tätig sein.

Wenn du erkennst, dass das Reich Gottes wesentlich größer ist als deine Gemeinde und an den Grenzen deiner Weide nicht aufhört – dann wird es dir leichter fallen, Abschied zu nehmen von diesen falschen Absichten. Wieso? Weil du erkennst, dass es auch andernorts tolle Gemeinden gibt. Und in diese können sich die Böcke – und das ist das Faszinierende – wieder als Schafe (und zwar als wirkliche Schafe) einklinken. Ich glaube, dass es nur ganz wenige Böcke gibt, die per se Böcke sind. Die gibt es auch. Die, die an jeder Gemeinde etwas auszusetzen haben und nur sich selbst trauen und im Alleinbesitz der allgemeingültigen Wahrheit sind. Die gibt es. Aber sie sind selten. Sehr selten.

Die Kunst des Leitens besteht darin, die Schafe von den Böcken zu unterscheiden. Dann gilt es, seine Schafherde zu leiten und Böcken im Frieden und ohne Missmut zu erlauben, die Herde zu verlassen – und in einer anderen Herde glücklicher zu werden.

Schaf…

Wie nun unterscheiden sich aber Schafe von Böcken – oder andersrum? Schafe sind dankbar für Leitung, weil sie wissen, dass sie einen Hirten haben, der sich nach bestem Wissen und Gewissen zusammen mit seinem Leitungsgremium um die Herde kümmert. Sie sind dankbar dafür und äußern das immer wieder. Sie wissen darum, dass das Leben in der Schafherde Gemeinde kein Leben auf dem Ponyhof ist, sondern sich immer mal wieder auch Zeiten der Dürre, des Unverständnisses oder des Andersdenken ergeben.

Schafe bleiben loyal – ihrer Herde und ihrem Hirten gegenüber. Sie üben Kritik in einer dankbaren Haltung und wollen nicht Krawall – sie wollen das beste für die Herde. Deswegen setzen sie sich auch für die Herde ein und arbeiten in der Gemeinde mit. Sie wissen um ihre Gaben (im besten Fall) und um ihre Begrenzungen, wissen aber auch, dass eine Herde nur dann funktioniert, wenn jeder seinen Teil dazu beiträgt. Das tun Schafe sehr gerne. In der Regel sind Schafe sehr dankbar für das, was sie vorfinden und jammern nicht ständig über das, was sie nicht haben.

Sie freuen sich an der Gemeinschaft mit den anderen Schafen, auch wenn sie nicht alle zu ihren engsten Freunden zählen und es manchmal ziemlich stinkt in der Herde. Aber sie wissen auch darum, dass sie selbst nicht immer gut riechen und es normal ist, dass man sich nicht immer so gut riechen kann. Sie vertrauen dem Hirten, dass er es gut mit ihnen meint und wenn sie mal vom Weg abkommen, sind sie dankbar für Zurechtweisung, Korrektur und Horizonterweiterung.

…oder Bock?

Böcke haben große Schwierigkeiten damit, den Hirten und sein Leitungsgremium als solchen anzuerkennen. Ständig gibt es etwas auszusetzen. Das tun sie mit Vorliebe innerhalb der Schafherde hinter vorgehaltenem Schaffell aber in den seltensten Fällen gehen sie direkt zum Hirten und seinem Herdenleitungsteam. Sie tummeln sich gerne unter ihresgleichen und sind der Ansicht, dass sie besser riechen und es besser wissen als die anderen Schafe. Sie merken gar nicht, dass sie sich von der eigentlichen Herde absondern und dass ihr Gras nicht unbedingt besser schmeckt und schon gar nicht grüner ist als das der großen Herde.

Böcke gehen nicht verloren, denn sie haben ja immer recht – meinen sie zumindest. Das führt nicht selten dazu, dass sie andere eher anblöken als mit ihnen zu reden, denn sie selbst sind ja im Besitz der Wahrheit. Selbst gutgemeinte Annäherungsversuche anderer Schafe blocken (oder blöken?) sie ab.

Böcke vertrauen lieber sich selbst und ihrer (vermeintlich) eigenen Stärke als dass sie sich auf andere (Schafe) verlassen oder sich ihnen anvertrauen. Wenn sie sich jemandem anvertrauen, dann anderen Böcken, so dass es eine kleine Bockherde neben der Schafherde geben kann.

Vor allem aber unterscheiden sie sich von Schafen in einer Sache: Dankbarkeit kennen sie – aus der Theorie. Oder aus der Vergangenheit, als das Gras noch grüner war, am Baum ein anderer Hirte lehnte und das Herdenleitungsteam noch genau das tat, was sie wollten. Schöne Ereignisse und Erlebnisse innerhalb und mit der Herde kennen sie auch meist nur noch aus der Vergangenheit. Sie können einfach nicht über ihren eigenen Schatten springen, und wieder Teil der Herde werden.

Obwohl in den meisten Fällen alle – sowohl Schafe als auch Hirte – sich freuen würden, wenn sie zurück kämen in die Herde. Denn das ist – meistens – ein großes Dilemma: Sowohl den Hirten, sein Herdenleitungsteam als auch viele der Schafe schmerzt es, wenn Böcke sich von der Herde absondern.

Und der Hirte?

Bei aller netten Analogie mit Schaf und Bock möchte ich diesen Artikel jedoch noch mit einem Gedanken schließen, der mir wichtig erscheint für alle Pastorinnen und Pastoren.

Das Wort “Pastor” kommt aus dem Lateinischen und heißt auf deutsch “Hirte”. Ich finde das unglücklich, da es nicht selten zu der Annahme führt, dass jeder Pastor ein “Hirte” sein müsse – und das meine ich nun im Blick auf den fünffältigen Dienst.

Er [Jesus] ist es nun auch, der der Gemeinde Gaben geschenkt hat: Er hat ihr die Apostel gegeben, die Propheten, die Evangelisten, die Hirten und Lehrer. Die Bibel, Epheser 4,11

Innerhalb des fünffältigen Dienstes ist nicht jeder Pastor automatisch ein Hirte – sondern hat eine stärkere Kraft und Vollmacht als Apostel, Lehrer, Prophet oder Evangelist. Und doch meine ich aber, dass es wichtig ist, uns den Hirten aus dem Gleichnis mit dem verlorenen Schaf vor Augen zu führen. Er hat ein barmherziges, weiches und liebevolles Herz für das Schaf.

Das ist es, was jeder Pastor und jede Pastorin braucht – und jetzt sage ich provokant: Auch im Blick auf die Böcke. Nein, nicht um sie dann doch wieder einzufangen, sondern um ihnen in der gleichen Liebe zu begegnen wie den Schafen. Jesus hat uns aufgefordert, sogar für unsere Feinde zu beten und sie zu segnen – dann sollte das im Blick auf Böcke nicht anders sein, denn manch einer begeht einen schwerwiegenden Fehler und meint, Böcke sind Feinde. Sind sie aber nicht. Keineswegs. Deswegen gilt es, dass wir als Leiterinnen und Leiter ein barmherziges, weiches und liebevolles Herz behalten und bewahren und alles daran setzen, dass es nicht unbarmherzig, hart und gehässig wird. Und da habe ich noch viel zu Lernen und zu Verbessern. Ich arbeite daran. Denn das Herz eines Leiters ist das Wichtigste, worauf er zu achten hat. [Dazu empfehle ich dir den Artikel “Ordne dein Leben“.]

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