Erschütternd. Ernüchternd. Wachrüttelnd. Hoffnungsvoll.
Das ist “Kindheit am Rande der Verzweiflung” in nur vier Begriffen. Das Buch hat mich tief bewegt und berührt. Auch wenn es nur gut 100 Seiten sind und ich es “in einem Rutsch” gelesen habe. Mir standen Tränen in den Augen. Immer wieder.
Tränen der Verzweiflung über die spürbare Ohnmacht gegenüber unseren politischen Verhältnissen.
Tränen der Wut über das, was durch politische Rahmenbedingungen “Familien am Rande der Gesellschaft” erleiden mussten.
Tränen der Fassungslosigkeit und Trauer über das Leid, das Kinder erleben mussten und das ihnen angetan wurde (und wird) in dieser Corona-Pandemie.
“Die fatalen Folgen von Lockdown und Isolation” ist der Untertitel dieses Buches, das hoffentlich eine weite Verbreitung findet.
Ein Augenöffner
Bernd Siggelkow ist Gründer und Leiter des deutschlandweit tätigen Hilfswerkes “Die Arche” (www.kinderprojekt-arche.de). Die größte und sicherlich auch bekannteste Einrichtung findet sich in Berlin. Aber es gibt in ganz Deutschland Standorte und Einrichtungen. Es sind Ersatz-Zuhauses für Kinder, die am Rande der Gesellschaft stehen, die benachteiligt sind, die in Armut leben, die immer “die Letzten” sind.
Seit über 25 Jahren engagiert sich Bernd Siggelkow für diese Menschen.
In “Kindheit am Rande der Verzweiflung” schildert er, was diese Kinder und Familien in den letzten 1 1/2 Jahren in der so genannten “Corona-Pandemie” erlebten – und erleben mussten.
Und Siggelkow liefert – er liefert Fakten und reale Zusammenhänge, die genau diese Erkenntnis wachsen lassen. Gleichzeitig kommt mit dieser Erkenntnis aber auch das ungute Gefühl: Das wird kein einfacher Weg – und er ist schon gar nicht zu Ende, wenn irgendwann wieder so etwas wie “Normalität” herrschen wird.
Diese Fakten und Zusammenhänge beschreibt Siggelkow in 6 Kapiteln:
I Benachteiligte Kinder vor dem Kollaps
II Gewalt an Kindern ist in der Isolation vorprogrammiert
III Kann Bildung ein Weg aus der Armut sein?
IV Die unmittelbaren Folgen von Corona für die jüngere Generation
V Kinder und politische Veränderungen
VI Familienhilfe ganz konkret
Ein Highlight mitten im Buch sind einige ausgewählte Tagebucheinträge Siggelkows, die er mitten in Lockdown-Zeiten aufschrieb. Sie geben einen ungetrübten Einblick in das, was ihn tagtäglich umgab – und immer noch umgibt: Hilferufe von Familien, die mit den Folgen des Lockdowns nicht klarkommen: mehr Streit, mehr Gewalt, weniger Nahrungsmittel (wenn alle hamstern, die Preise ansteigen, werden selbst einfache Lebensmitteleinkäufe für ohnehin schon benachteiligte Familien zur Tortur), Angstzustände, Kinder, die von zuhause weglaufen und Einsamkeit durch Isolation. Es ist herzzerreißend, es ist aufwühlend, es ist erschütternd.
Nicht nur in den Tagebucheinträgen, sondern auch in den anderen Kapiteln beschreibt Siggelkow die bittere Realität durch ganz reale Zusammenhänge und Ereignisse. Hier wird nichts beschönigt – gleichzeitig findet aber auch kein billiger Voyeurismus statt.
Vorschläge und Ideen – die Politik hört weg
Siggelkow bleibt nicht bei reinen Beschreibungen des Ist-Zustands und beim Lamentieren. Er hat Ideen, er hat Lösungen, er hat sie präsentiert: in über 500 Interviews in Radio, Fernsehen und in der Zeitung. Gehört hat sie kaum jemand – zumindest kaum Politiker, die die Macht haben, Dinge zu ändern. Oder wollte man ihn nicht hören?
In “Kindheit am Rande der Verzweiflung” kommen aber auch andere Stimmen zu Wort, welche die Tragik dessen, was sich momentan in Deutschland abspielt, schonungslos ansprechen und Möglichkeiten eröffnen – wenn sie denn ergriffen werden.
Darunter sind unter anderem Jörg Dräger, Vorstand der Bertelsmann-Stiftung, auf deren Untersuchungen und Forschungen sich Siggelkow immer wieder beruft und sie zitiert – und sie sind erschreckend!
Zu Wort kommt aber auch die Polizei – in Form einer Statistik, die im Mai 2021 veröffentlicht wurde und die Zahlen benennt, die beim Lesen für einen Kloß im Hals sorgen:
Ja, schon hier stockt der Atem. Aber es geht noch weiter – und hinter jeder Zahl steht eine Person, ein Kind, ein Mensch, der innerliche und äußerliche Verletzungen, Schaden an Körper und Seele davon getragen hat.
Dieses Leid ist unvorstellbar – und umso wichtiger ist solch ein Buch von Bernd Siggelkow.
Es ist eine Mischung aus ganz persönlichen Erfahrungen und Erlebnisberichten, statistischen Fakten, Wortmeldungen anderer Experten sowie ganz praktischen Lösungsansätzen, die größtenteils im Nichts verhallten.
Kinder brauchen Stimmen, die sich für ihre Rechte einsetzen. Stimmen, die sie und ihre Bedürfnisse kennen und entsprechend Entscheidungen treffen. Gremien, die nur im Blick haben, die Kosten in Grenzen zu halten, sind da weniger zielführend.
Kinder haben Wünsche und Träume, eigene Vorstellungen und Ideen, die den Blick eines Kindes widerspiegeln. Doch leider werden sie viel zu selten gehört.
Jeder von uns kann sich für ein Kind einsetzen oder auch den Druck auf die Politik ausüben, damit sie das Kind im Blick hat.
Kindheit am Rande der Verzweiflung, S.92Trotzige Hoffnung
So könnte man das Ende und vielleicht das gesamte Buch überschreiben. Es ist keine wissenschaftliche Abhandlung – die muss es aber auch gar nicht sein, um hoffentlich von vielen, vielen Menschen gelesen zu werden. “Kindheit am Rande der Verzweiflung” ist mehr ein Erlebnisbericht, eine laute Stimme für die, die keine Stimme haben.
Es ist das leidenschaftliche Eintreten eines großartigen Menschen mit seinem Team für die am Rande der Gesellschaft Stehenden und so oft Benachteiligten; ein Plädoyer für die, die keiner hören will. Es ist ein Hilfeschrei – und zugleich ein Mutmacher. Darüber hinaus zeigt es auf, dass oftmals nicht viel nötig ist, um Menschen zu helfen und ihnen in ihrer Notsituation zu begegnen – auch wenn das nicht mehr als ein Tropfen auf den heißen Stein sein kann.
Eines ist klar:
Wenn jemand wie Bernd Siggelkow, der mit seinen Teams im ganzen Bundesgebiet über ein Jahr lang jede Menge Erlebnisse hatte mit Menschen, die unter den Corona-Maßnahmen litten, seine Eindrücke und Ideen, seine Hoffnung und sein praktisches Anpacken verschriftlicht, sollte man hinhören – auch und gerade dann, wenn er einen kleinen Ausblick gibt.
“Wir machen weiter.” So endet das Buch – aber nicht die Arbeit der “Arche”. Für beides bin ich Bernd Siggelkow sehr, sehr dankbar: Für seine Arbeit mit der “Arche”, die so vielen tausenden Kindern und Familien Hoffnung gibt – und für sein Buch. Möge es ein Weckruf sein, ein Hoffnungsschimmer, ein Augenöffner – nur eines darf es nicht werden: ungelesen! Deswegen empfehle ich es dir von Herzen!